Herr Prodi, 100 Jahre nach Benito Mussolinis Machtergreifung hat Italien mit Giorgia Meloni eine Ministerpräsidentin, die sich unverhohlen auf das Erbe des Duce beruft. Fällt das Land in den Faschismus zurück?
ROMANO PRODI: Die Regierung wurde erst angelobt. Jetzt müssen wir abwarten, wie sie handelt. Wie die einzelnen Minister dieses kompliziert zustande gekommenen Kabinetts agieren. Sicher, die Parlamentswahlen hat eine Partei gewonnen, die ihre Wurzeln im Faschismus hat. Aber wir sollten berücksichtigen, dass sich dieses Ergebnis ganz in die jüngste Geschichte des Landes fügt.
Inwiefern tut es das?
Italiens Traditionsparteien sind in eine tiefe Krise geraten, so tief, dass es einen Regen politischer Sternschnuppen auslöste. Renzi, die Lega, die Fünf Sterne, dann Draghi von außerhalb des Politikbetriebs und nun Meloni. Die Stimmen für die extreme Rechte drücken ein Unbehagen aus, das es schon lange gibt. Ich wünsche mir, dass Italien in Europa eine Politik der Kontinuität verfolgt. Unser Spielraum ist begrenzt – sowohl in der atlantisch geprägten Außen- als auch in der Wirtschaftspolitik.
Ist das mit einer entschieden souveränistischen Partei an der Regierung möglich?
Selbstverständlich ist es das. Wie so oft könnte es einen großen Unterschied zwischen dem geben, was Meloni im Wahlkampf gesagt hat, und der Politik, die sie dann tatsächlich verfolgt. Wir werden sehen, ob da ihre tiefe kulturelle Prägung durchdringt oder das Wissen um die besondere politische Verantwortung in Zeiten wie diesen.
Sie sagen, Unzufriedenheit habe zu Melonis Sieg geführt. Was sind die Gründe dafür?
Es ist kein rein italienisches Phänomen. Alle westlichen Demokratien sind davon betroffen. Aber in Italien fällt der Regierungswechsel aufgrund der „Mani pulite“ (Anm.: die Aufdeckung des Korruptionsskandals, der Anfang der 1990er-Jahre zur Implosion der Traditionsparteien führte) und wegen des Niedergangs der einst starken kommunistischen Partei ruppiger aus als anderswo. Aber das kennen Sie aus Österreich. Ich war Kommissionspräsident, als Jörg Haiders FPÖ im Jahr 2000 an die Regierung kam. Jacques Chirac und andere EU-Staatenlenker wollten Österreich bestrafen. Ihr Druck auf mich war sehr groß. Ich sagte: „Ich reagiere nicht auf ein Wahlergebnis. Ich reagiere dann, wenn die Politik einen Irrweg einschlägt.“ Das gilt auch für Italien. Ich habe bei fast allem, was wichtig ist, eine völlig andere politische Meinung. Aber es geht um Respekt vor dem Wählervotum. Natürlich, wenn Sie mich fragen: „Fürchten Sie sich?“, dann antworte ich: „Ja.“
Wovor haben Sie Furcht?
Ich fürchte mich vor einer schwächeren Präsenz Italiens in Europa. Mein Land hat nur eine Zukunft, wenn es eng mit Europa verbunden bleibt. Auf uns allein gestellt und isoliert sind wir leichte Beute für mögliche Spekulationen. Denken Sie an Großbritannien! Vor zehn Jahren hätten die jüngsten Entscheidungen der britischen Regierung vielleicht nicht so heftige Reaktionen ausgelöst. Heute führen sie zu Tragödien. Heute sind wir verloren, wenn wir in Europa nicht zusammenhalten.
Sie sagen, für Italien gebe es außerhalb der EU keine Zukunft. Welche Bedeutung hat das Land denn für Europa?
Italien war für Europa immer wichtig. Deutschland und Frankreich waren stets die Motoren des europäischen Wagens. Aber keine größere Entscheidung wurde ohne Italien gefällt. Wir sind das zweitgrößte Industrieland in Europa. „Nein zu Europa!“, das war die alte Idee von Lega und Melonis Fratelli d’Italia. Jetzt sagen sie: „Wir wollen ein anderes Europa.“ Aber wir sind heute doch so eng miteinander verbunden! Sogar die deutschen Geschäftsleute haben verstanden, dass selbst das große Deutschland ohne Europa keine wichtige Rolle in der Welt spielen kann. Einen Tag, bevor Corona ausbrach, habe ich mit der Bologna Business School die Audi-Fabrik in Bayern besucht. Die stand still, weil die Motoren aus Ungarn nicht angeliefert worden waren. Wir müssen in Italien mit den etablierten europäischen Ländern Deutschland, Frankreich, Spanien und Österreich an einem Strang ziehen. Die Sympathie für Ungarn oder Polen, die bei den Fratelli d‘Italia und der Lega durchscheint, ist ein Desaster.
Welche der Krisen, die Europa überrollen, ist die gefährlichste?
Kurzfristig gesehen der Krieg in der Ukraine. Wir müssen ihn stoppen! Auf lange Sicht bereitet mir die Krise der Demokratie am meisten Sorge. Als ich Präsident der Europäischen Kommission war und davor und danach Premierminister, hatten wir viele bilaterale Treffen mit China. Schon damals hatte ich nicht den Eindruck, dass die chinesische Führung den Willen zur Demokratisierung habe. Aber da waren trotzdem Respekt und Neugier für die inneren Entscheidungsabläufe in Europa. Mit Xi Jinping heißt es dagegen heute: „Wir liefern, ihr nicht.“ Der Autoritarismus nimmt weltweit zu – auf den Philippinen, in Russland, Zentralasien, der Türkei, in Ungarn, Polen, Brasilien und halb Afrika. Sogar in den USA erlebte die Demokratie kritische Momente. Das macht mir Angst.
Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine denn beenden?
Dafür gibt es nur einen Weg. China und die USA müssen ein Abkommen schließen. Zurzeit ist das nicht in Sicht. Wir müssen den Ausgang der Zwischenwahlen in den USA abwarten. Und natürlich kann so eine Vereinbarung nicht gegen den Willen der Ukraine oder Russland geschlossen werden. Aber eine Art von Kompromiss kann nur erzielt werden, wenn beide Supermächte Druck ausüben.
Wie soll das gehen? Die USA und China sind verfeindet.
Ja, aber das waren sie auch in der Kuba-Krise. Trotzdem wurde ein Kompromiss gefunden. Den schlägt auch ein vielversprechender junger Gelehrter namens Henry Kissinger vor. 99 Jahre ist er alt und er meint, dass man unter Einfrierung aller anderen Konflikte eine begrenzte Einigung erzielen müsse.
Wie rational handelt Putin?
Ich hatte mindestens zwölf Gipfeltreffen mit ihm. Um ehrlich zu sein: Ich habe darauf gewettet, dass er diesen Krieg nie beginnen würde. Als er es doch tat, habe ich meinen ehemaligen Militärexperten kontaktiert und er hat gesagt: In unserem Handbuch steht, dass man zur Eroberung der Ukraine 500.000 Soldaten benötigt. Putin mobilisiert nur etwas mehr als 100.000 Soldaten. Es wird ein kurzer Krieg sein. Aber Putin denkt wie ein Zar.
War es naiv von Europa, sich über das Gas so von ihm abhängig zu machen?
Als Italien den Kohleausstieg beschloss, war es klar, dass die Abhängigkeit von ausländischem Gas steigen würde. Alle Experten meinten damals: „Macht euch keine Sorgen. Russland hat bisher so pünktlich geliefert wie eine Schweizer Uhr." Das Problem ist nicht die Abhängigkeit von Russland, sondern dass wir überhaupt abhängig sind. Das war aber nicht nur ein Fehler von Italien. Das war ein Fehler von ganz Europa.
Aber nur wenig Länder waren so russophil wie Italien.
Diesen Vorwurf hat man auch Deutschland gemacht. Beide Länder haben viele Geschäfte mit Russland gemacht. Sogar die Amerikaner taten das, ehe sich das Verhältnis verschlechterte. Ich erinnere daran, dass bei meinem letzten EU-Russland-Gipfel Ende 2004 russische Journalisten Putin und mich fast fordernd fragten, wann Russland der EU beitrete. Ich erwiderte: „Jetzt ist das unmöglich, Russland ist zu groß. Aber wir sind über Investments immer enger verbunden.“ Scherzend fügte ich hinzu: „Wir sind wie Whisky und Soda.“ „Putin unterbrach mich: „Nein, nein, wie Wodka und Kaviar!“ So war die Atmosphäre damals.