Etwas zaghaft und vorsichtig stimmen viele im Premierensaal von Cannes mit ein. Musiker Vincent Delerm sitzt bei der Eröffnungsgala am Piano, um "Que je t’aime" von Johnny Hallyday zu singen – und das Publikum, darunter zahlreiche Stars von Julianne Moore bis Jury-Präsident Vincent Lindon – singt nach seiner Aufforderung mit. "Denn ich liebe dich", immer wieder, ein paar Mal hintereinander. Dazu laufen Filmausschnitte auf der Leinwand von Kinopaaren, die sich küssen und sich lieben. Ach, denkt man sich in diesem Moment, wenn Liebe und Einigkeit auf diese Weise doch nur die Welt retten könnten. Doch wenige Minuten später hat die Wirklichkeit Cannes wieder im Griff.
Erst spricht Forest Whitaker, der für sein Lebenswerk mit einer Ehren-Palme ausgezeichnet wurde, von den Auswirkungen der Pandemie. "Wir werden Jahre damit beschäftigt sein, das Trauma zu verarbeiten und durch die Magie der Träume und der Imagination einen Sinn darin zu finden", sagt der Oscarpreisträger, der in Cannes einst für "Bird" den Darstellerpreis gewann. Dann taucht in einer Live-Schaltung Ukraines Präsident Wolodymyr Selenski auf der Leinwand auf. In seiner mitreißenden Ansprache bezieht er sich auf Charlie Chaplins Faschismus-Satire "Der große Diktator" und fordert die Filmwelt auf, an der Situation zu wachsen angesichts des Krieges, der den ganzen Kontinent in Brand setzen könnte. "Wir brauchen einen neuen Chaplin, um zu zeigen, dass die Filmwelt nicht stumm ist", sagt er dem Festivalpublikum.
Nachdem auf der Gala die Kraft und die Wirkung des Kinos so intensiv beschworen wurden, wundert man sich nach der ersten halben Stunde von Michel Hazanavicius‘ "Coupez" schon etwas, warum dieser Film das Festival eröffnet. Hätte da nicht auch ein Plätzchen unter den Mitternachtsvorführungen gereicht? Dieses Remake des japanischen Übererfolgsfilms "One Cut of the Dead" (2017), der vor allem in seinem Entstehungsland das über Tausendfache seines schmalen Budgets einspielte, landet man mitten in einem dilettantischen Zombie-Horrorthriller und dessen Dreharbeiten, die ebenfalls von Untoten heimgesucht werden. All das mit ordentlich Chaos. Voller Ungereimtheiten. Mit viel zu viel Schreierei. Dazu gespieltes schlechtes Schauspiel und Kunstblutsudel. Das ist zunächst alles aber eher anstrengend als komisch.
Doch mit einer Rückblende nach dem Film-im-Filmdreh-Film zieht Hazanavicius gerade rechtzeitig eine weitere Ebene ein und ändert den Tonfall. Jetzt geht es um die Vorgeschichte der Produktion und wie der Regisseur (Romain Duris) beauftragt wird, den Zombie-Film zu realisieren – allerdings nur in einer einzigen Einstellung. Nach dem irritierenden Start wird "Coupez" so zur durchwachsenen Satire auf das Filmgeschäft und seine Egos, die durchaus ihre Momente hat. Vor allem aber wird man mit längerem Atem letztlich doch belohnt, wenn am Ende der Zombiefilm noch einmal gezeigt wird – diesmal allerdings mit allen witzigen Pannen und Improvisationen, die hinter den Kulissen so passiert sind.
So fügt sich "Coupez" nahtlos ein in Hazanavicius‘ vorherige Filme, die sich gern mit Kino und Genres beschäftigen – einmal etwas mehr als Persiflage wie die Spionage-Veralberung "OSS 117", einmal etwas mehr als Hommage an die Kunst des bewegten Bildes wie seine Oscar-prämierte Stummfilmkomödie "The Artist". Im Grunde sind diese Werke aber immer beides gleichsam. Und auch "Coupez" ist da keine Ausnahme und entpuppt sich letztlich doch als passender Eröffnungsfilm, der mit einigen amüsanten Momenten das Kino und den Entstehungsprozess feiert.
Sascha Rettig