Pater Anselm Grün, was braucht der Mensch - ich meine damit Einkommen, Nahrung, Kleidung, eine Wohnung -, ohne maßlos zu sein?
ANSELM GRÜN: Er braucht Essen, das ihn satt macht, ihn gut nährt und ihn gesund hält. Er braucht ein Einkommen, damit er in Ruhe leben kann, ohne sich ständig Sorgen machen zu müssen. Und er braucht die Kleidung, die ihn gegen das Wetter schützt. Aber er muss nicht jeden Tag etwas Neues anhaben und er muss auch nicht Geld zum Fenster hinauswerfen oder aber anhäufen. Zur Maßlosigkeit gehört ja nicht nur die Verschwendung, sondern auch der Geiz, denn auch der ist ja maßlos. Also: Die innere Freiheit zu besitzen, ist ein wichtiges Kriterium, ob jemand sein richtiges Maß gefunden hat.
Wann aber überschreitet ein Mensch die Grenze zur Maßlosigkeit?
Man kann das an verschiedenen Dingen festmachen. Beim Essen und Trinken überschreitet der Mensch das Maß, wenn er immer dicker wird. Jeder Körper hat doch sein eigenes Maß, ohne dass ich mich an anderen messe oder einem Modeideal nacheifere. Beim Geld überschreite ich die Maßlosigkeit, wenn meine Gedanken dauernd darum kreisen, wenn ich besessen bin davon. An den äußeren Dingen bin ich maßlos, wenn ich damit angeben will. Die Dinge dienen uns, aber wenn ich damit angebe, dann beherrschen sie uns.
Ist Maßlosigkeit bloß eine schlechte Charaktereigenschaft, oder ist sie eine Todsünde im Sinn der sieben Todsünden?
Wir müssen genau hinschauen, was mit Todsünde gemeint ist. Die frühen Mönche haben von den "neuen Leidenschaften" gesprochen. Leidenschaften sind Kräfte, mit denen man umgehen muss, weil sie einen beherrschen können. Die "neuen Leidenschaften" wurden zu "neuen Lastern" und daraus wurden die sieben Todsünden. Aber moralisieren hilft uns nicht. Todsünden sind eigentlich Haltungen, die nicht zum Leben führen, sondern eben zur Erstarrung. Doch mitunter das Maß zu überschreiten, ist ja nicht nur schlecht. Denn manche Menschen verwechseln Maß mit Mittelmäßigkeit und richten sich dann in der Mittelmäßigkeit bequem ein. Aber manchmal eine Grenze zu überschreiten ist auch etwas, was einen frei macht.
Andy Warhol hat einmal gemeint, jeder Mensch habe das Bedürfnis, einmal im Leben für fünfzehn Minuten ein Star zu sein. Wird Maßlosigkeit auch durch den Zwang, wahrgenommen werden zu wollen, angetrieben?
Die Frage ist doch: Werde ich als Person wahrgenommen oder werde ich nur als Besitzer eines teuren Autos wahrgenommen. Da steckt doch auch eine Entfremdung von meinem eigenen Selbst drinnen. Und Maßlosigkeit hat doch immer mit Entfremdung zu tun. Wer keinen Wert in sich hat, der braucht möglichst viel Zustimmungswerte. Aber das Fatale ist ja, dass die, die mit ihrem Geld oder dem teuren Auto angeben, auf reife Menschen peinlich wirken. Letztlich erreichen sie das Gegenteil. Sie werden von ein paar Leuten anerkannt, aber als Mensch werden sie nicht gesehen.
Hilft uns ein Wertefundament, wirkt es quasi präventiv, nicht in Maßlosigkeit abzudriften?
Platon hat die vier Kardinaltugenden, die vier Grundwerte Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß und Klugheit aufgestellt. Und die, kann man meinen, hängen zusammen. Gerecht sein heißt, seinem eigenen Wesen gerecht zu werden, das eigene Maß zu finden. Tapferkeit bedeutet, zu diesem eigenen Maß zu stehen und mich nicht größer darzustellen, als ich bin. Und klug zu sein bedeutet, sich zu entscheiden, das eigene Leben zu leben und sich nicht nach den anderen zu richten. Insofern sind Werte, die die Würde des Menschen schützen, ein Schutz für das richtige Maß, wie ja auch das richtige Maß einen eigenen Wert repräsentiert.
Der "Wert" als Begriff findet sich zuerst in der aristotelischen Philosophie, allerdings im Abschnitt über die Ökonomie. Der "Wert" ist also seit Aristoteles primär ein ökonomisch geprägter Begriff. Welche Bedeutung haben aber die erwähnten Grundwerte im ökonomischen Bereich, im Wirtschaftsleben?
Es gibt genügend Untersuchungen, die zeigen, dass Firmen, die Werte schätzen, auf Dauer wertvoller sind und auch mehr Gewinn machen. Das heißt nun nicht, dass ich die Werte verzwecken darf. Und wenn der einzige Wert das Geld ist, dann wird alles wertlos. Das Geld fließt erst dann, wenn eine Firma auf Werte achtet, die das Leben wertvoll machen. Eine Missachtung der Werte ist ein Zeichen für Selbstverachtung und Menschenverachtung. Und dort, wo Menschen verachtet werden, kann man nicht zusammenleben. Eine Firma, die das tut, wird wertlos.
Auch die neuen Technologien tragen dazu bei, dass wir ständig erreichbar sind. Auch für den Arbeitgeber. Weil wir auch noch zu Hause berufliche E-Mails lesen und beantworten. Die Maßlosigkeit kann also auch die Form der Selbstausbeutung annehmen, wenn ich um meinen Arbeitsplatz fürchte oder weil ich glaube, die Firma erwartet eine solche Mehrleistung von mir.
Es tut der Seele auf Dauer nicht gut, immer auf Abruf zu leben. Dieses Immer-zur-Verfügung-Sein ist eine Ausbeutung. In vielen Firmen gibt es Menschen mit Burn-out-Syndrom. Das hat auch mit dem richtigen Maß zu tun. Nicht nur mit dem Ausmaß der Arbeit, sondern mit bestimmten Einstellungen. Etwa dass ich mich beweisen muss oder dass ich Angst habe, nicht genügend anerkannt zu werden.
Was braucht der Mensch, ohne aber maßlos zu werden, so lautete meine Eingangsfrage. Was, Pater Grün, braucht der Mensch, um glücklich zu sein?
GRÜN: Der Mensch braucht Liebe, der Mensch braucht ein Gespür für seinen Wert, für seine Einmaligkeit. Er braucht auch das Kreative, dass es strömt in ihm, sodass er fühlt, er kann etwas schaffen und gestalten. Und er braucht die Gemeinschaft, die ihn trägt. Und für mich gilt: Der Mensch braucht das Geheimnis, das größer ist als er selber. Also den Glauben an etwas, das mich trägt, wo ich mich geborgen fühle, wo ich eine Quelle der Liebe spüre, die nicht nur aus mir kommt, sondern die mir auch geschenkt ist.
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