Anklage, Gebet und Hilfeschrei zugleich: „Sie kommen in eure Häuser, töten euch alle und sagen: ,Wir sind nicht schuldig!‘ Die Menschheit weint.“ Der Text des ukrainischen Beitrags ist der totale Kontrast zur unbeschwerten Fröhlichkeit, die während der drei rot-weiß-roten Minuten von Zoë verbreitet wird. Auch musikalisch ist „1944“ eigenwillig und keine leichte Kost. Durch die Intensität des Auftritts und die Brisanz jedoch Geheimfavorit. Sängerin Jamala thematisiert im selbst geschriebenen Stück das Schicksal der Krimtataren und zugleich ihre Familiengeschichte. Die auf der Krim lebende Minderheit, das muslimische Turkvolk der Tataren, wurde unter Stalin pauschal der Kollaboration mit Nazi-Deutschland beschuldigt und im Mai 1944 nach Zentralasien zwangsumgesiedelt.
Nach Protesten von russischen Politikern, die aktuelle Krim-Situation zwar nicht erwähnend, mussten die Song-Contest-Veranstalter den Text prüfen und entschieden, dass er regelkonform sei und „keine politische Botschaft“ enthalte. Jamala selbst über ihr „historisches“ Lied: „1944 betrifft alle Menschen, die furchtbare Tragödien in der Vergangenheit erlebt haben. Wir sollten uns immer daran erinnern und niemals vergessen, derartige Vorkommnisse zukünftig zu verhindern.“
Etwas angeschlagen mit Halsweh ist Zoë, aber keineswegs ängstlich. Sie beginnt zu singen und strahlt: „Die hohen Töne gehen noch. Dann ist es ja gut!“ In den Wettbüros wird sie nun auf Platz zwölf bei 26 Finalländern geführt. „Es wird schon alles so kommen, wie es kommen muss“, sagt sie.
Russland bleibt Favorit
Zum russischen Favoriten Sergey, der mit der technisch ausgeklügeltsten Show in Videoclip-Ästhetik auffährt und seine eigene Bühne aus Moskau mitgebracht hat, sagt die Wienerin: „Ich bin froh, dass ich mich auf die Gefühle und die Freude konzentrieren kann – und nicht darauf, wohin ich den nächsten Choreografieschritt setzen muss.“ Man kann „You Are The Only One“ für ein aufgeblasenes Nichts halten, eingängig ist die Liebesbeschwörung mit ihren treibenden Beats allemal. Nicht unterschätzen darf man Italien mit seiner wunderbaren Francesca. Ein moderner Song wie auch der von Frans aus Schweden, der mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert wurde. „If I Were Sorry“ bietet jedenfalls entspannten Clubhouse-Sound. Die Buchmacher tippen: Russland vor Australien, Ukraine, Frankreich und Schweden.
Zu den Ohrwürmern zählt freilich „Loin d’ici“, das Zoë mit Papa Christof Straub komponiert hat. „Die Strophen starten in C-Dur, der Refrain ist in e-Moll. Wir wollten das Gefühl vermitteln, dass das Lied ständig woanders hingeht und setzten natürlich auch den Halbtonschritt-Effekt ein. Die Worte flogen uns dann so zu“, schmunzelt Straub.
Laut Statistik gewinnt eine Frau mit einem pathetischen Midtempo-Song. Eine Berechnung aus 60 Jahren Song Contest. Eine Berechnung eben ...