Es ist eine Spätsommernacht in Kursk. Ich fotografiere die – trügerische – jugendliche Sorglosigkeit auf dem Gehsteig. Und werde plötzlich angebellt: „Was fotografierst du da?“, der zornige, muskulöse Hüne führt mich ab zu einem Armeelaster in der Nähe, übergibt meine Papiere zwei Militärs. „Deutscher Staatsbürger“, „hat Hochhäuser fotografiert“, „Geolokation“, „ihr arbeitet alle für die Ukrainer“, der jüngere Soldat fängt an zu telefonieren.

Russen auf der Flucht

Die 450.000-Einwohner-Stadt Kursk ist die Hauptstadt der gleichnamigen westrussischen Region, in die am 6. August ukrainische Truppen eingedrungen waren und sich auf einem Gebiet von knapp 1300 Quadratkilometern festgesetzt haben. Erstmals seit 80 Jahren kämpft eine ausländische Armee auf russischem Boden. Jetzt hagelt es Raketensplitter auf Hausdächer, über 130.000 Russen sind auf der Flucht.

Der tägliche Luftalarm, ein an alte Kriegsfilme erinnerndes Heulen, schert hier offenbar kaum jemanden. Aber die Artilleriegefechte bei Gluschkowa leuchten wie ein fernes Gewitter über der Leninstraße, wo abends junge Leute vor Cafés flanieren. Dennoch herrscht Fremden gegenüber Nervosität.

Inzwischen herbeigerufene Nationalgardisten und Kriminalisten interessieren sich für mein Smartphone. Man argwöhnt, ich hätte meine Spionagefotos schon versendet. „Sie sind festgenommen. Sie haben das Recht, einen Anruf zu machen.“ Mein Verdruss weicht erster Angst. 

„Keine Gewissheiten mehr“

Aber bevor ich im Streifenwagen lande, der mich zur Wache bringen soll, bin ich wieder frei. Ich habe den zuständigen Beamten im Informationsministerium der Regionalregierung vorher noch über Telegram erreicht. Seine Mitteilung an die Polizei, dass ich ordnungsgemäß als Journalist akkreditiert bin, ist angekommen.

Andere aber hat das Unglück voll getroffen. Wladislaw Nemzow kommt aus dem Grenzdorf Swerdlikowo im Sudschanskij Rajon, den die Ukrainer zuerst attackierten. „Solange dieser Krieg dauert, gibt es keine Gewissheiten mehr“, sagt er. Nemzow brachte am 6. August seine Familie in Sicherheit. Jetzt leben er, seine Frau Larissa, ihre vier Kinder und ihre Schwägerin Swetlana Schapowalowa mit ihren zwei Söhnen in einem der Wohnheime auf dem Campus der staatlichen Südwestuniversität in Kursk.

Wer schuld hat? „Die Faschisten, die Nazis“

Wer schuld hat? „Die Faschisten, die Nazis“, sagt Wladislaw Nemzow. Die ukrainischen? „Natürlich.“ Auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen verfinstert sich Wladislaws Gesicht. „Wir brauchen eine Wohnung, dann wird sich auch Arbeit und alles andere finden“, sagt Larissa. Ihre Hoffnung sei das staatliche Zertifikat, das Flüchtlingen, die ihren Wohnraum endgültig verloren haben, zustehen soll. Am besten wieder für ein Haus, mit Beeten und Kleinvieh. Eigentlich wollen alle Flüchtlinge nach Hause. Auch, wenn es dieses Zuhause nicht mehr gibt.

Vor einem Boxklub sitzt Artur. Der sonnenverbrannte und gut gelaunte 38-Jährige, seine Frau, seine Schwiegereltern und fünf Kinder gehören zu den Flüchtlingen, denen die Boxer ihren Trainingssaal überlassen haben. Artur will morgens wieder heim, in ein Frontdorf im Lgowsker Rajon. Dort steht die Mühle, für die er arbeitet, eine große, elektrisch betriebene Mühle. Zwei Tage erholt er sich in Kursk, malocht dann fünf Tage in der Mühle. „Dabei schießt die Artillerie so, dass ich morgens den Wecker nicht höre.“ Er grinst. Aber es tue ihm leid um das Getreide. „Unsere Grenzer haben sich zwei Tage heldenhaft verteidigt, warum hat der Verteidigungsminister keine Unterstützung geschickt?“, fragt Artur. Diesen Minister interessiere nur Geld. „Putin weiß vieles nicht, die Minister verschweigen es.“ Selbst im Unglück verzeihen die Russen dem Zaren. Aber an seine Allmacht glauben sie auch nicht mehr.