Die kurze Vergangenheit des Christbaums
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war Weihnachten ein Fest, das der gläubige Christ in der Kirche feierte – mit dem Besuch der Christmette dokumentierte er seine Verbundenheit mit dem Mysterium der Menschwerdung Jesu Christi. Wohl ging der Mette ein gemütliches Beisammensein im Kreise der Familie, in Wien das „Sabbathindl“ genannt, voraus, und wohl frönte man – je nach gesellschaftlichem Stand – vor und nach dem Kirchenbesuch kulinarischen Freuden – man denke etwa an das „heilige Mahl“ der Tiroler Bauern. Doch das war nicht Weihnachten, wie wir es heute kennen: Der Höhepunkt war ein individuelles religiöses Erlebnis, die Teilnahme an der heiligen Messe, das Sich-Hingeben an die frohe Botschaft des Weihnachtsevangeliums. Man feierte in der Gemeinschaft aller Gläubigen, nicht in der Familie. Unbekannt war jene spezifische „Weihnachtsstimmung“, die heute Jahr für Jahr medial hartnäckig reproduziert wird und gedankenlos Frieden und Freude und Fröhlichkeit suggeriert, jener schizophren anmutende gefühlsselige Diskurs, der von weihnachtlicher Harmonie spricht, wo doch nur Vergessen und Verdrängen gemeint sein können. Und vor allem: Weihnachten war kein Fest der Kinder: Die Säkularisierung des Weihnachtsfestes, sein „Wandel vom religiösen Kirchenfest zum profanen Familienfest“ (Doris Foitzik), ging nun auch in Österreich Hand in Hand mit dem rasanten Aufstieg des Bürgertums; sich herauskristallisierende neue gesellschaftliche Strukturen – entstehend durch zunehmende Industrialisierung sowie durch das enorme Anwachsen von Berufsgruppen wie jener der Beamten und Lehrer – prägten veränderte „weihnachtliche Verhaltensmuster“ (Ingeborg Weber-Kellermann). Zum Symbol dieser tiefgreifenden Veränderung des Weihnachtsrituals wurde der Christbaum, der zuerst in der habsburgischen Metropole Wien Fuß fasste. Die allgemein geläufige Formulierung, dass er eines schönen Tages in Wien „eingeführt“ wurde, entspricht nicht exakt den Tatsachen: Man nahm den Christbaum in Wien vielmehr aktiv an, fügte er sich doch punktgenau in das „Anforderungsprofil“ einer gesellschaftlichen Schicht, die – politisch noch ohnmächtig – alle neben der Erwerbstätigkeit verbleibende Kraft in das Wohl der Familie und vor allem in deren Reproduktionsfähigkeit investierte: Die Ideen der Aufklärung waren schließlich auch in Wien auf fruchtbaren Boden gefallen; man hatte den Wert von Erziehung bzw. Bildung für das Halten neu errungener Positionen erkannt und tat alles, um den Kindern weiterhin entsprechend gute Chancen zu vermitteln. Weihnachten wurde daher zum Fest, an dem man die Seilschaft mit den Kindern für den Wettbewerb „draußen“ durch Geschenke besiegelte. Man verstärkte die Position des Christkinds, des „anonymen Gabenbringers“ (Ingeborg Weber-Kellermann), was zwar nichts mit kirchlichen Lehrmeinungen zu tun hatte, aber dafür umso besser zu einem Weihnachtsritual passte, das die Bescherung der Kinder ins Zentrum rückte – Tannengrün und brennende Kerzen ergaben dafür ein unwiderstehliches Ambiente. Den theologisch-philosophischen Rückhalt für das neue Weihnachtsfest lieferte eine kleine Schrift von Friedrich Schleiermacher, die 1806 unter dem Titel „Die Weihnachtsfeier“ erschienen war und bei den Zeitgenossen – auch in Kreisen der Wiener Intelligenz – auf allgemeine Zustimmung stieß. Das Revolutionäre im Konzept Schleiermachers: Feste wie Weihnachten erhielten von ihm eine Schlüsselfunktion im neuen christlichen Frömmigkeitsbewusstsein zugewiesen, das sich nicht mehr auf Dogmen und fragwürdige historische Fakten zur Geschichte Jesu stützte, sondern das gefühlsbetonte gegenwärtige Erlebnis Gottes suchte. Und nicht in den Kirchen wäre dieses zu finden, sondern in der Familie, im Kreise von Frau und Kindern, in fröhlicher Geselligkeit – „weihnachtliche Frömmigkeit“ und „bürgerliche Häuslichkeit“ (Dieter Schellong) gingen damit jene unverrückbare Allianz ein, die bis heute unser Verständnis von Weihnachten bestimmt.
Quellen: Ingeborg Weber-Kellermann, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt am Main 1974 UND Ingeborg Weber-Kellermann, Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit. Luzern-Frankfurt am Main 1978 UND Doris Foitzik, Kriegsgeschrei und Hungermärsche. Weihnachten zwischen 1870 und 1933. In: Faber/ Gajek, Politische Weihnacht, 1997, S. 217–247