Jahrzehntelang war Daimler der Inbegriff konservativer Klassik in der Autobranche. Heute lässt Sabine Scheunert, Chefin der neuen digitalen Einheit von Mercedes-Benz Cars, keck wissen: „Sie brauchen natürlich ein digitales Ökosystem rund um das Fahrzeug, und wir haben uns viele Jahre auf die Mercedes-Benz-Kunden konzentriert. Aber wir können heute mit Mercedes Me auch einen Kunden haben, der keinen Mercedes besitzt.“ Wie tief greifend der Wandel bei Daimler ist, sah man zuletzt in Frankfurt: Während die Autoliebhaber zu ebener Erde die neuesten Modelle bei der Internationalen Automobil-Ausstellung begutachteten, wurde der Wandel in unmittelbarer Nähe sichtbar: Die „Me Convention“, eine Zukunftskonferenz abseits von Motoren und Fahrwerken, wurde von Daimler abgehalten. Es ging in der Konferenz um Digitalisierung genauso wie um Ressourcenschonung, Carsharing, Neurokapitalismus, Auswirkungen neuester Technologien auf das Gehirn oder Cloud-Lösungen. Facebook-Managerin Sheryl Sandberg (Vize von Mark Zuckerberg) war ebenso vor Ort wie Martin Weber, der Finanzchef des Berliner Unternehmens Infarm, der mit Gemüsefarmen für Städte Importe aus dem Ausland abstellen will. Die Veranstaltung, die nach dem Vorbild der legendären und größten SXSW-Zukunftsmesse der Welt aus den USA kreiert wurde, sollte Entwickler, Quergeister, zukünftige Hoffnungsträger, Start-ups und App-Entwickler anlocken. Das Auto? Nebensache, irgendwie. Sandberg rang Daimler-Chef Dieter Zetsche dabei auch ungewöhnliche Töne ab. Sinngemäß: Man wolle von Facebook sogar lernen.
Wie Daimler derzeit selbstverständliche Auto-Dogmen infrage stellt, überrascht auch digitale Geister. Während selbst Google vom Auto ohne Pedale abgerückt ist und sich auf Software-Lösungen für autonome Fahrzeugkonzepte konzentriert, hat man zuletzt bei Daimler die Smart Vision EQ präsentiert, die nicht einmal mehr ein Lenkrad hat.
Das Auto übersetzt zum Beispiel Gesten der Insassen. Wenn man etwa einen Passanten bemerkt, der über die Straße will, dann kann man das mit einer Geste zeigen und an der Front des Smarts erscheint dann eine Botschaft für den Passanten, dass er queren darf. Und wenn jemand – nach Anfrage übers Handy – mitfahren, also „carsharen“ möchte, dann kann man ihn über eine App akzeptieren oder Tinder-ähnlich wegwischen. Wenn man trotzdem jemanden mitnimmt, kann die Mittellehne hochgefahren oder das Glas abgedunkelt werden. Überhaupt, das Glaskonzept des autonomen E-Smarts, der ab 2022 Realität werden soll: Auf den Türflächen ist Werbung einzuspielen und so das Auto als Werbeträger zu nutzen, irgendwie Livetube 4.0. Mit Smartphone und Sprachsteuerung kontrolliert man Smarts Knutschkugel vollständig.
Scheunert hat ein genaues, grundsätzliches Bild von einer App, wie sie heute aussehen muss: „Luxury of Time“ lautet das Schlagwort. In Sachen intuitive Bedienung und Anwendung gehe es darum, dem Fahrer oder App-Benutzer „Zeit zurückzuschenken“ oder „etwas abzunehmen“. Natürlich ist auch Scheunert klar, dass die Generation Z spezielle Anforderungen an Apps hat. „Da geht es um die einfache Bedienstruktur, diese Generation ist ja mit der Technologie aufgewachsen, das Handy ist ihr Lebensbegleiter. Die Generation Z hat ein ganz anderes Anspruchsverhalten. Wie schnell bekomme ich meinen Wunsch erfüllt? Auch hier spielt die Zeit wieder eine entscheidende Rolle.“ Und es gebe regionale Unterschiede, was die App-Anforderungen betrifft. „Die Chinesen sind am schnellsten in dem Bereich unterwegs. Die haben keine Entwicklungsschritte wie wir gemacht – die sind gleich bei der Digitalisierung eingestiegen.“ Scheunert erklärt aber auch, dass der nächste Entwicklungsschritt wartet. „In Zukunft werden wir keine Apps haben, wie wir sie heute kennen. Klassische Apps werden in Zukunft ersetzt, wir werden über Sprachsteuerungen verschiedene Anwendungen kontrollieren. Mit Sprachsteuerung werde ich zum Beispiel diverse Services öffnen.“
Dass Daimler auch mit BMW spricht, wenn es um Mobilitätsdienste geht – etwa Carsharing –, ist bekannt. Carsharing könnte „the next big thing“ sein, wenn man es wie der legendäre Apple-Boss Steve Jobs ausdrücken will. Die Carsharing-Dienste der beiden Luxushersteller – Car2Go und DriveNow – haben sich zwar im kollektiven Bewusstsein festgesetzt, aber sie sind noch kein großes Geschäft. Wichtig sind die Projekte vor allem für eines: Zu verstehen, wann man wo wie viele Autos benötigt, wie man plant und wo die Fahrzeuge stehen müssen, damit die Kunden auch einsteigen. Mit all dem Wissen der letzten Jahre hat man Datenschätze gesammelt, die man mithilfe von Algorithmen heben kann. Denn damit sind genaue Berechnungen möglich, wie man eine Fahrzeugflotte wie einen intelligenten Schwarm selbstfahrender Autos immer dorthin steuern könnte, wo ihn die Menschen brauchen. Etwa nach Fußballspielen. Derweil wird die Generation Z weiter analysiert, weil stilprägend: „Wir arbeiten mit allen Anbietern, die diese Generation Z nutzt, zusammen. Aber darüber hinaus binden wir sie auch in unser digitales Ökosystem ein.“ Denn wenn man das nicht schafft, ist diese Generation für die Marke – und wohl auch für die Branche – verloren.
Didi Hubmann