Eine Klarstellung vorweg: Das Ziel der Klimaneutralität für den Verkehr ist umso ehrgeiziger, als bis 2050 über alle Transportmittel hinweg mit knapp einer Verdreifachung des Personentransports gegenüber 2015 gerechnet wird sowie mit einer Verdreifachung des weltweiten Güterverkehrs. Als Lösung dieser Herkulesaufgabe gilt der elektrische Antrieb.
Doch mit der zunehmenden Elektrifizierung mehren sich kritische Stimmen, die fordern, bei der Umweltbilanz der automobilen Antriebe über den Auspuff hinauszudenken. Werden bei batterieelektrischen Fahrzeugen, die im Fahrbetrieb abgasfrei unterwegs sind, auch Strom- und Batterieerzeugung mitberücksichtigt, sieht die CO2-Gesamtbilanz mit dem EU-Strommix schlechter aus als beim modernen Diesel-Pkw. In anderen Weltgegenden mit überwiegend Kohlestrom fällt das Ergebnis für batterieelektrische Autos noch düsterer aus.
Derzeit berücksichtigen die CO2-Vorgaben der EU ausschließlich den Ausstoß aus dem Fahrzeug. Reine E- oder Brennstoffzellenfahrzeuge gelten somit als CO2-frei. Bei Hybridautos wird nur der CO2-Ausstoß des Verbrennungsmotors im Rahmen der EU-Normzyklustests berücksichtigt, was Plug-in- Hybridautos mit großen Batterien mit extrem niedrigen Verbrauchszahlen glänzen lässt. Im Normalbetrieb sind diese nur erreichbar, wenn der Kunde die Batterien regelmäßig auflädt. Die meisten Autohersteller können aber mit dieser Berechnungsmethode gut leben. Sie investieren Milliarden Euro in die Entwicklung batterieelektrischer Antriebe und hoffen auf deren schnellen Durchbruch, damit sich die Investitionen schnell rechnen. Eine neue CO2-Berechnungsmethode könnte zögerliche Kunden weiter bremsen.
Umdenken
Doch bei den EU-Verantwortlichen gibt es ein Umdenken. Immerhin wird sich beim Klimaschutz nichts verbessern, wenn die CO2-Emissionen nur vom Auspuff der Autos zu den Schornsteinen der Kraftwerke verlagert werden, wo auch Strom für die Elektroautos erzeugt wird. Künftig soll sich daher die CO2-Berechnung nicht mehr auf den Ausstoß aus dem Auspuff beschränken (Tank-to-wheel), sondern zumindest auch die Kraftstoffherstellung berücksichtigen (Well-to-wheel). Derzeit wird so manche sinnvolle Technologie, um CO2 zu sparen,von der Autoindustrie nicht umgesetzt, weil sie für die EU-CO2-Vorgaben nicht angerechnet wird. Dies soll sich ändern. Die Schweiz hat bereits reagiert.
Gelernt haben die EU-Verantwortlichen bei den Biokraftstoffen. Bei ihnen hat die EU bereits zweimal die Richtlinie nachgeschärft und rückte so verstärkt die Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt: In die Umweltbeurteilung einzelner Biokraftstoffe, die etwa dem fossilen Benzin und Diesel beigemengt werden, fließen auch die Menge des dafür verwendeten Kunstdüngers, die mögliche Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion, was Ackerflächen angeht, oder die Zerstörung von Urwald mit ein. Die Nachteile, die bei der Herstellung solcher Kraftstoffe entstehen, dürfen nicht größer als deren Vorteile im Fahrbetrieb sein.
Das Palmöl etwa, das in den vergangenen Jahren in der EU als Biokraftstoff dem Diesel beigemengt wurde, führt in den Herkunftsländern zur Vernichtung großer Urwaldflächen. Es verlor unter den neuen EU-Bedingungen stark an Attraktivität.
Öko-Gesamtbetrachtung
Mittelfristig peilen die EU-Gesetzgeber eine Treibhausgas-Lebenszyklus-Betrachtung für jeden einzelnen Antrieb/Kraftstoff an. Diese Lebenszyklusbetrachtung bezieht die Herstellung der einzelnen Materialien und des Treibstoffs eines Fahrzeugs ebenso mit ein wie den Fahrbetrieb und am Lebensende die Verwertung. Sie könnte so einen gesamtheitlichen Einblick über die Umweltverträglichkeit erlauben. Allerdings ist sie sehr komplex.
Das Ziel der EU-Verantwortlichen ist es, eine Rechenmethode entwickeln zu lassen, die administrierbar und technologieoffen ist und gleichzeitig weltweit unterschiedliche Berechnungsmethoden auf einen Nenner bringt. Vor Ende 2026 will die EU-Kommission einen Vorschlag für so ein Regelwerk dem EU-Parlament vorlegen.
Wie so eine Lebenszyklusanalyse aussehen könnte, erläuterte Mike Bell, leitender Innovationsexperte von Ricardo, auf dem Wiener Motorensymposium. Ricardo, der britische Zulieferer, wurde von der EU-Kommission beauftragt, Formeln und Rechenmodelle dafür zu entwickeln. Bell ist überzeugt, dass solche Lebenszyklus-Betrachtungen, die die Verfügbarkeit und Arbeitsbedingungen bei der Produktion einzelner Materialien mitberücksichtigen, die Bereiche Materialbeschaffung, -herkunft und -recycling stark beeinflussen werden. Genauso wie die Wahl der Treibstoffe, der Energiegewinnung sowie des Antriebs. Durch Kinderarbeit gewonnene Rohstoffe werden ebenso klar deklariert wie kaum wiederverwertbare Materialkombinationen.
Ankündigungen etlicher Politiker in EU-Staaten und Städten in den vergangenen Jahren, etwa den Verkauf von herkömmlichen Diesel- und Benzin-Pkw ab 2030/2040 zu verbieten, sei ohne Gedanken an eine Lebenszyklusanalyse und somit Verfügbarkeit einzelner Materialien erfolgt, so Bell. Solche Faktoren müssten aber mitberücksichtigt werden, um nicht durch vorschnelle Entscheidungen neue Probleme zu schaffen. Die Berechnungen erfolgen für die Produktgruppen der Straßenfahrzeuge, vom Pkw über leichte und schwere Nutzfahrzeuge bis zu Bussen.
Alle gängigen Kraftstoffe und Antriebe werden untersucht. Bei der Klimabilanz geht es neben Treibhausgasen (CO2) auch um die gesetzlich regulierten Schadstoffe wie Partikel oder Stickoxide. Grundvoraussetzung, dass nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden, sind jedoch einheitliche Berechnungsmethoden bis 2025.
Eine große Herausforderung ist das Mitberücksichtigen künftiger technologischer Änderungen, etwa bezüglich der Effizienz der Antriebe, Fahrzeuggewicht, Technologie von Batterie- und Elektro-Antriebsherstellung, fallender Kosten oder des Recycelns von Altbatterien.
Die Stromquelle entscheidet
Wenn es um ein klimaneutrales Fahrzeug geht, ist die Stromquelle entscheidend. CO2-freie, erneuerbare Quellen sind Wind, Sonne, Wasser. Ein über seine ganze Lebenszeit klimaneutrales Fahrzeug fährt nicht nur mit Ökostrom, es müssen auch die Materialien, aus denen es besteht, mit Ökostrom hergestellt worden sein. Allein die Art der Stromerzeugung ändert die Treibhausgasbilanz der Batterieherstellung für ein Elektroauto um 35 bis 40 Prozent. Die Art der Stromerzeugung, von Kohle bis Biogas, spielt deshalb auch für Lebenszyklusanalysen eine große Rolle. Daneben fließen jedoch viele weitere Faktoren wie Übertragungsverluste bei Stromnetzen in die Berechnung ein – es bleibt also komplex.
Maria Brandl