Richtig begehrt waren die Autos von der Insel einmal. Von 1932 bis 1955 hielt Großbritannien weltweit sogar den zweiten Platz unter den Auto-Nationen. Doch binnen weniger Jahrzehnte sprengte sich die Schlüsselindustrie durch erbitterte Arbeitskämpfe und Misswirtschaft selbst in die Luft. Die Folge war ein Abverkauf der ehemaligen automobilen Kronjuwelen in den letzten 20 Jahren: BMW schnappte sich Mini und Rolls Royce, Volkswagen verleibte sich Bentley ein, Tata Motors übernahm Land Rover und Jaguar von Ford.
Mit dem Ergebnis, dass die abgewirtschaftete Autoindustrie - gestützt von Milliardeninvestitionen - eine regelrechte Renaissance erlebte. Bis der 24. Juni 2016 kam, der Tag, an dem sich 52 Prozent der Bürger in Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Ab diesem Moment schrillten die Alarmglocken in der Branche. Denn welche Auswirkungen der Brexit auf die im Vereinigten Königreich produzierende Autoindustrie bei Zöllen und Logistik haben würde, war von Beginn an klar. Schließlich kommen mehr als die Hälfte der 1,7 Millionen Fahrzeuge auf das europäische Festland.
Honda schließt Werk in Swindon
Aus Gründen mangelnder Planungssicherheit, zogen einige Hersteller schon vor dem ursprünglich geplanten Austrittsdatum (29. März 2019) die Notbremse. So gab Honda nach Jahreswechsel bekannt, das Werk in Swindon spätestens 2021 schließen zu wollen. Nissan wird seine Produktion verlagern und den neuen X-Trail nicht mehr in Sunderland, sondern in Japan montieren lassen.
Toyota, Ford und BMW überdenken noch die Zukunft ihrer Standorte. Schon macht ein Horror-Szenario von Werksschließungen und Massenentlassungen die Runde. In den 32 Werken, in denen Fahrzeuge und Komponenten gefertigt werden, sowie in den 22.000 weiteren Zulieferbetrieben sind eine Million Mitarbeiter beschäftigt. Wegen des massiven Absatzeinbruchs muss Jaguar Land Rover bereits ein Sparprogramm fahren und sich von 5000 Mitarbeitern trennen.
Zweitgrößter Markt Europas knickt ein
Stand schon das Autojahr 2018 im Zeichen des Brexits und drückte die Kauflaune auf dem zweitgrößten Automarkt Europas, knickte die Autoproduktion im ersten Quartal 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozent ein. Der April war der elfte Monat in Folge, in dem in Großbritannien weniger Autos vom Band rollten als im Vormonat. Und die Talfahrt dürfte bis zum 31. Oktober, dem Datum des Austritts, an Dynamik zulegen. Nach dem britischen Wahltag und dem Sieg der Brexit-Party wird ein harter Brexit noch wahrscheinlicher. Dann wäre ein weiterer Rückgang um 30 Prozent zu befürchten.
Drohende Zölle, dunkle Wolken
Bei einem ungeregelten Austritt würden für Autos sofort zehn Prozent und für Bauteile 4,5 Prozent Zoll fällig. Was einen erheblichen Anstieg der Preise für britische Autos in der EU zur Folge hätte. Katastrophal wären zudem die Schäden, wenn England über Nacht vom wichtigsten Handelspartner abgeschnitten wäre. Die „No Deal“-Auswirkungen würden bei der „Just in time“-Strategie der Branche sofort sichtbar werden und zu Lieferengpässen und Unterbrechungen, verursacht durch Wartezeiten an den Grenzen, führen.
Der Brexit bringt freilich den größten Autobauer Großbritanniens, Jaguar Land Rover, enorm in Bedrängnis. Der Premium-Hersteller, der auf der Insel über 40.000 Menschen beschäftigt und im Vorjahr 578.000 Fahrzeuge produzierte, schreibt nach rasanten Jahren des Wachstums aktuell tiefrote Zahlen. Und weil es der Konzernmutter in Indien - Tata - gerade auch nicht berauschend gut geht, machen bereits erste Verkaufsgerüchte die Runde.
Gerhard Nöhrer