Es ist seit Wochen das beherrschende Thema der Automobilbranche. Der radikale Schwenk von Volkswagen Richtung Elektromobilität setzt die Autowelt völlig unter Strom. Und sorgt für extreme Spannungen und Nervosität. Schließlich ist der Autobauer aus Wolfsburg nicht irgendein Hersteller. Er ist der größte Produzent der Welt. Und als solcher systemrelevant. Wenn der deutsche Gigant, der 655.000 Menschen beschäftigt und 10,8 Millionen Fahrzeuge pro Jahr baut, eine epochale Wende einleitet und den Schalter umlegt, dann hat das für die gesamte Industrie Konsequenzen.
Der Mann, der den Weltmarktführer unwiderruflich an die Steckdose bringt, hat mit der klaren Festlegung und der Geschwindigkeit der Umsetzung alle überrascht. Vom Verband Deutscher Automobilhersteller schlägt Vorstandschef Herbert Diess (60) offener Widerstand entgegen. Die Mitbewerber aus München und Stuttgart fühlen sich überrumpelt und verraten: Weil BMW und Mercedes noch eine Technologie-Offenheit pflegen und dabei durchaus noch auf den Verbrenner setzen, laufen sie Gefahr, schnell als Dinosaurier des Benzinzeitalters gebrandmarkt zu werden. Aber auch im eigenen Haus und bei den Zulieferern hält sich der Applaus in Grenzen, weil im Zuge der Transformation gravierende Arbeitsplatzverluste drohen und in Deutschland schon das Gespenst von 100.000 gestrichenen Jobs die Runde macht.
Der Volkswagen-Chef mit dem österreichischen Pass sieht im konsequenten Schnitt die einzige und letzte Möglichkeit, den Vorsprung von Silicon Valley und den marktführenden Chinesen zu egalisieren und mittelfristig doch noch als Sieger bei den Elektroautos durchs Ziel zu gehen. Zudem braucht Volkswagen den hohen Anteil an Stromern, um nicht Milliarden für die Nichteinhaltung der von der Politik geforderten CO2-Grenzwerte nach Brüssel überweisen zu müssen. Und zu guter Letzt könnte der Dieselsünder für seine ökologische und ökonomische Weitsicht von der Politik und der Öffentlichkeit belohnt und als Klimaretter gefeiert werden. Volkswagen will den Umwelt-Musterschüler geben und baut rund um seine neuen Elektroautos ein regelrechtes grünes Ökosystem auf. So sollen alle Zulieferer mittels Fragenkatalog in die Pflicht genommen werden. Das Credo heißt klimaneutral. Der Kunde soll künftig ein Auto in die Hand gedrückt bekommen, das rundum sauber ist und nicht bloß dann, wenn es fährt.
Der Wandel vom Saulus zum Paulus ist ein sozialer, vor allem aber ein gigantischer finanzieller Kraftakt. So muss Volkswagen in den nächsten Jahren weit über 100 Milliarden Euro für neue Modelle, Produktionsstätten und eine eigene Batteriezellenfertigung in die Hand nehmen. Wobei das Geld noch mit Diesel und Benzin verdient werden muss. Doch schon in sieben Jahren will VW die Entwicklungsabteilung für Verbrennungsmotoren schließen. Diess macht Druck und will zügig eine kritische Masse bezahlbarer Produkte schaffen. Der Fahrplan ist ambitioniert: Fällt noch heuer in Zwickau der Startschuss für die erste E-Generation, sollen im Paradewerk 2020 schon 100.000 Batterieautos vom Band rollen. Das sind dreimal so viele Stromer, wie im Vorjahr in Deutschland zugelassen wurden. In den nächsten zehn Jahren will der Konzern 70 reine E-Modelle bringen und in acht Werken jeweils 300.000 Stromer bauen. Ab 2030 soll jeder zweite Konzernwagen elektrisch betrieben sein.
Dafür muss freilich der Markt mitspielen. Erhebt sich das Elektroauto in den nächsten fünf Jahren nicht aus der Nische, oder erweist sich die Technologie gar als Irrweg, könnte es für Volkswagen richtig eng werden. Diess setzt alles auf eine Karte, und fährt eine Hochrisiko-Strategie. Ein Zurück gibt es nicht. Nicht wenige Branchenexperten sind wegen der Kosten, der noch mangelnden Lade-Infrastruktur und der Rohstoffe skeptisch. Diess wird die Politik als Verbündeten brauchen, in Wolfsburg weiß er die Porsches und Piëchs hinter sich. Die Stimmung in der Gesellschaft könnte sich als Turbo erweisen: Das Zeitfenster für die Vision von Diess ist offen.
Gerhard Nöhrer