Der deutsche Kanzler Olaf Scholz rückt von seinem ursprünglichen Plan ab, erst im Frühjahr seinen Posten als Regierungschef zu räumen. "Dass ich noch vor Weihnachten die Vertrauensfrage stelle, wenn das alle gemeinsam so sehen, ist für mich überhaupt kein Problem", sagte Scholz am Sonntagabend in einem ARD-Interview. Nach dem Zerfall der Ampel-Koalition wurde er von der konservativen Union und dem Ex-Koalitionspartner FDP aufgefordert, rasch Neuwahlen zu ermöglichen.
"Ich klebe nicht an meinem Amt", sagte der sozialdemokratische Politiker. Zu beachten seien aber stets die nötigen demokratischen Schritte und technischen Vorbereitungen für eine ordnungsgemäße Neuwahl. Scholz sagte in der Sendung "Caren Miosga": "Niemand von uns, Sie nicht, ich nicht, sonst auch niemand, möchte, dass irgendwas passiert wie in Berlin, dass wir Wahlen wiederholen müssen."
Wahlleiter warnt vor frühem Wahltermin
Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler warnte eindringlich vor einem zu frühen Termin für die Neuwahl des Bundestages. "Ich kann nur raten, besonnen an das Thema heranzugehen, auf Fachleute zu hören und jetzt nicht in einen Sofortismus bei der Feststellung des Wahltermins zu verfallen", sagte Bröchler der Deutschen Presse-Agentur. Natürlich müsse eine Neuwahl auch für Jänner organisiert werden, wenn das politisch gewollt und vom Bundespräsidenten so entschieden werde. "Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das die Qualität demokratischer Wahlen gefährdet", so Bröchler, der nach schweren Wahlpannen in Berlin 2021 ins Amt kam und seither unter anderem zwei Wiederholungswahlen organisiert hat. "Wenn wir die hohen Qualitätsstandards, die wir in Bund und Ländern haben, halten wollen, dann rate ich von einem Wahltermin im Jänner ab."
Bröchler erläuterte, die Organisation von Wahlen sei in der föderal aufgebauten Bundesrepublik aufwendiger als in Zentralstaaten wie Frankreich. Da müsse viel zwischen Bund und Ländern abgestimmt und besprochen werden. Ein zu früher Wahltermin womöglich mit Wahlkampf über Weihnachten sorgt nach seiner Einschätzung für viele Probleme etwa bei der Suche nach Räumen für Wahllokale, bei der Anwerbung und Schulung von Wahlhelfern, bei Papierbeschaffung, Druck und Versand von Wahlunterlagen, auch für die Briefwahl.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hatte zuvor der Opposition ein Entgegenkommen beim Wahltermin signalisiert, aber Vereinbarungen gefordert, welche Projekte noch gemeinsam umgesetzt werden. "Beide Herausforderungen kann man zusammen und gemeinsam angehen", sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Als konkrete Beispiele nannte er die Erhöhung des Kindergelds, die Sicherung des Deutschlandtickets, Entlastungen der Industrie sowie den Schutz des Verfassungsgerichts. Wenn eine solche Agenda vereinbart würde, dürfte es "leicht gelingen, einen sinnvollen Termin für die Wahl zu finden", hatte er gesagt.
Scholz zeigt sich zuversichtlich
Scholz zeigte sich am Sonntagabend zuversichtlich, dass er die vorgezogene Bundestagswahl gewinnen könne. Unterschiede in Charakter und Temperament zwischen ihm und CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz seien groß. Gefragt nach dem größten Charakterunterschied erklärte er: "Ich finde mich etwas cooler, wenn es Staatsangelegenheiten betrifft - um es mal so höflich zu sagen, wie es mir gerade gelingt." Außerdem hätten sie beide sehr unterschiedliche politische Ziele.
Anders als Merz ist Scholz noch nicht offiziell als Kanzlerkandidat seiner Partei nominiert. Er habe aber keine Zweifel, dass er aufgestellt werde, sagte der 66-Jährige in der Talkshow. Und er glaube daran, den in den Umfragen sichtbaren, deutlichen Rückstand der SPD zur Union noch umzukehren. "Das ist eine sehr aufholbare Größenordnung", sagte Scholz. Die Sozialdemokraten liegen in Umfragen aktuell 15 bis 18 Prozentpunkte hinter CDU und CSU.
In dem Interview wies Scholz neuerlich die Verantwortung für das Ende der Ampel-Koalition zurück. Er habe FDP-Chef Christian Lindner im Streit um das Budget nicht provoziert, sondern vielmehr bis zuletzt für den Erhalt der Koalition gekämpft. "Ich habe es ertragen, dass ich für den Kompromiss und die Kooperation immer wieder, manchmal auch gute Miene zu einem ziemlich bösen Spiel gemacht habe. Aber wenn es zu Ende ist, dann muss es auch zu Ende sein", sagte er. Scholz verteidigte auch seine öffentliche Abrechnung mit Lindner, nachdem er seine Entlassung angekündigt hatte. "Es war anständig, klar und deutlich und für alle Bürgerinnen und Bürger sehr verstehbar", sagte er. Häufig sei gefordert worden, er solle öfter auf den Tisch hauen. Ohne sein Bemühen um Kompromisse hätte die Regierung nicht so lange gehalten.
Obwohl seine nur noch aus SPD und Grünen bestehende Regierung im Bundestag keine Mehrheit mehr hat, sitzt Scholz vergleichsweise gut im Sattel. In Deutschland kann ein Bundeskanzler nämlich nur abgesetzt werden, indem mit absoluter Mehrheit ein Nachfolger gewählt wird - oder der amtierende Regierungschef selbst die Vertrauensfrage stellt und diese verliert. Dies ist auch die einzige Möglichkeit, um zu vorgezogenen Neuwahlen zu kommen. Der Bundestag hat nämlich nicht die Befugnis, sich selbst aufzulösen.
Sondersitzung am Dienstag geplant
In der Diskussion um den Weg zur Neuwahl wollen die Fraktionen von SPD und Grünen eine öffentliche Sondersitzung des Wahlprüfungsausschusses schon am Dienstag. Ziel müsse sein, dort "mit der Bundeswahlleiterin zu diskutieren, wann die Neuwahl aus ihrer Sicht mit ihrer praktischen Erfahrung frühestens stattfinden kann", heißt es in einem Antragsschreiben an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), das der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vorliegt. Die Sitzung müsse zum beantragten Zeitpunkt stattfinden, um "die Belange der ordnungsgemäßen Vorbereitung und Durchführung der Wahl in der laufenden öffentlichen Debatte berücksichtigen zu können".
Am Montag wollen die Wahlleitungen von Bund und Ländern über die Vorbereitung zur vorgezogenen Wahl des Bundestages beraten. Bundeswahlleiterin Ruth Brand warnte in einem Brief an Scholz vor "unabwägbaren Risiken" durch kürzere Fristen. Gemäß Artikel 39 muss der Bundestag nach Auflösung des Parlaments durch den Bundespräsidenten innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden. Brand will die Frist voll ausschöpfen, "um alle erforderlichen Maßnahmen rechtssicher und fristgemäß treffen zu können."
In dem Schreiben wies Brand auf logistische Herausforderungen wie die Berufung von Wahlausschüssen, die Werbung und Schulung von Wahlhelfern, die Organisation von Wahllokalen und schließlich mögliche Probleme bei der Papierbeschaffung hin.
Die Papierindustrie hält dagegen. "Klare Antwort: Ja. Bei rechtzeitiger Bestellung können wir das benötigte Papier für eine vorgezogene Bundestagswahl liefern", sagte Alexander von Reibnitz, Hauptgeschäftsführer des Verbands Die Papierindustrie, "ZDFheute.de".
Auch die Union widersprach Brand. "Ich kann der Bundeswahlleiterin daher nur raten, sich von niemandem instrumentalisieren zu lassen", sagt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, der "Bild am Sonntag".