In der Regel ist es so, dass unsere Sinne miteinander konkurrieren. Ein Sinn zieht sich zugunsten des anderen zurück: Wer etwa genau hinhören, ganz Ohr sein will, schließt fast automatisch die Augen, um sich auf das eine zu konzentrieren. Menschen mit verschalteten, verknüpften, miteinander verkoppelten Sinnen ist das nicht möglich. Bei ihnen sind zwei oder mehr Sinne immer zugleich aktiv.
Der Reiz des einen reizt den anderen unwillkürlich mit
Hören sie etwa einen Ton, erscheint vor ihrem inneren Auge (seltener in die Außenwelt projiziert) eine Farbe. Wenn sie Musik hören, entstehen ganze Farbgemälde. Am Werk ist hier ein neurologisches Phänomen. Die Wissenschaft definiert Synästhesie als die Kopplung von zwei Sinneswahrnehmungen, die normalerweise getrennt voneinander fungieren. Auch bildgebende Methoden zeigen die synchrone Aktivität der verschiedenen Gehirnregionen sehr schön: Menschen mit Synästhesie haben eine normale Wahrnehmung – sie hören oder riechen etwas – und zeitgleich haben sie automatisch eine weitere Empfindung in einem zweiten Sinn.
Das E ist weiß, der Dienstag veilchenblau
Das Spannende ist: Synästhetiker unterscheiden sich nicht nur von der großen Mehrheit der „Einsinnigen“, sondern auch jeder Einzelne vom Anderen. Kein synästhetisches System gleicht dem anderen – selbst wenn die gleiche Form vorliegt. Jeder hat seine ganz individuelle Wahrnehmung, und spricht er über sie, stößt er meist auf Staunen – im besten Fall auf neugieriges, nachfragendes, im schlechtesten Fall auf befremdetes.
Ein „Zusatzfenster“ zur Welt
Kathrin P. erzählt, dass sie „es“ mit Farben und Wörtern/ Buchstaben/Zahlen hat. Bis zur 8. Klasse Gymnasium – da wurde das Thema im Psychologieunterricht behandelt – sei ihr nicht bewusst gewesen, dass Wochentage, Buchstaben und Wörter bei anderen keine Farben haben. „Für mich war es eine erstaunliche Erkenntnis, dass nicht alle um mich herum die Welt so wahrnehmen wie ich, und ich habe erst durch das neugierige Nachfragen der anderen bemerkt, dass ich über so etwas wie ein ‚Zusatzfenster‘ zur Welt verfüge. Im Alltag empfindet sie ihre verknüpften Sinne – wie übrigens die meisten – als Bereicherung. „Für mich ist es wie ein internes Ordnungssystem. Jeder Wochentag hat bei mir eine Farbe, und ich habe mich schon dabei ertappt, dass ich an diesem Tag oft Kleidung in dieser Farbe trage.“ Zudem macht sie die Erfahrung, dass das Thema die Leute interessiert. „Und es ist auch spannend, von anderen zu hören, da es ja so viele Ausprägungen gibt.“
Wenn die Sinne verschmelzen
Apropos Ausprägungen: Etwa vier Prozent der Menschen – dieser Schätzung folgt auch die Deutsche Synästhesie Gesellschaft – weisen eine von 80 (!) verschiedenen Formen derSinnesverknüpfung auf. Am häufigsten ist das Sehen von Klängen. Neben der Verschiedenartigkeit der Sinnesverknüpfung (auch der Geschmacksinn, Tastsinn und Gefühlswahrnehmungen können involviert sein) gibt es auch eine Bandbreite an Intensität.
Ist man ausgeprägter vielsinniger Synästhet, kann es mit der Wahrnehmung durchaus kompliziert werden: zu bunt, zu viel, zu unausweichlich. Und das eigene Empfinden kann mit der Außenwelt „kollidieren“. So sind Synästheten oft in ästhetischen Belangen extrem penibel. Publizieren sie etwa ein Buch, ist ihnen keine Komponente daran egal – vom Schriftbild über die Formatierung bis zur Papierart. Dieses genaue Empfinden sowie das Gefühl der Reizüberflutung, das einige quält, sind zwei mögliche Schattenseiten der verkoppelten Sinne. Die positiven Begleiterscheinungen überwiegen aber: Synästhesie gilt heute als eine Quelle der Kreativität. Kaum ein „Betroffener“ möchte sie missen und manche Varianten dürften handfeste Vorteile beim Lernen, Merken und Erinnern mit sich bringen.
Nicht nur im 19. Jahrhundert ein Faszinosum der Kunst
Nicht immer war das Phänomen als ebenbürtige (oder bereichernde) Normvariante anerkannt. Bevor man das Geschehen erklären konnte, kam es häufig vor, dass Synästhetiker als Irre galten. Inzwischen weiß man mehr: „Doppelwahrnehmungen sind vererbte Fähigkeiten“, erklärt Caroline Beier, Vorsitzende der Deutschen Synästhesie Gesellschaft. Mittels DNA-Analyse kam es zur Erkenntnis, dass bei Synästhetikern Nervenzellen im Gehirn ungewöhnliche Verästelungen vornehmen und sich mit anderen Hirnregionen verbinden.
Wahrnehmung ist individuell
Jeder nimmt In den meisten Fällen bestehen Verbindungen zwischen dem Hör- und dem Sehzentrum. Für das Töneschmecken sind wieder andere Gehirnregionen zuständig. Die Erkenntnisse der Forschung bestätigen aber nicht nur Menschen mit Synästhesie in ihrer Wahrnehmung, sie zeigen auch, dass wir alle unterschiedlich sehen, hören, schmecken und riechen. „Die Wirklichkeit fühlt sich für jeden einzelnen anders an“, so Beier. Der Kunst und den Künstlern sind die außergewöhnlichen Erfahrungen seit jeher ein Faszinosum.
Ein Song wie das Licht einer Gühbirne
Ob bei Rimbaud (Dichter) oder Kandinsky (Maler) – oder Billie Eilish, US-Sängerin der jungen Generation: Kunstschaffen wird oft von der sprachlich so schwer zu fassenden Wahrnehmung angestoßen. Billie Eilish verbindet Töne mit Farben und Räumlichkeiten bzw. Texturen. Sie strebt es beispielweise an, einen Song zu erschaffen, der wie das Licht einer Glühbirne klingt. Bei allem, was sie tut, denkt sie daran, was für eine Farbe es hat. Diese Empfindungen fließen in ihre Lieder mit ein, leiten sie. Für ihr Album „When We Fall Asleep, Where Do We Go?“ erschuf sie deshalb sogar ein Pop-Up-Museum. Jeder der 14 Songs hat einen Raum und macht erlebbar, wie Billie die Musik sieht, fühlt und riecht. Mehr Infos: www.synaesthesie.org
Roswitha Jauk