Eine seit über drei Jahrzehnten in Wien lebende Frau besucht ihre alte Mutter im südkärntnerischen Jaundorf. Mira besucht Anni. Es ist ein schwieriger Besuch, denn obwohl sich die Mutter gerade noch halbwegs selbstständig versorgen kann, soll sie das Haus räumen. Cousin Franz, der das Gebäude geerbt hat, in dem die Familiengeschichte auf engstem Raum begann, hat andere Pläne: Er möchte das Häuschen abreißen und eine Tischlerwerkstatt errichten. Anni soll ins Altersheim. Sie opponiert nicht direkt dagegen, leidet aber sichtlich unter diesen Aussichten. Lieber sterbe sie gleich, noch vor dem Umzug, lässt sie wissen.
Nicht nur die gegenwärtige Auseinandersetzung mit der Mutter, dem Bruder Stanko und den übrigen Verwandten ist nicht einfach, auch die Erinnerungen, die jedes Wiedersehen mit Dorfbewohnern, jedes Stöbern in alten Kisten mit sich bringt, sind von großen Emotionen begleitet. Mira wird mit ihrer eigenen Kindheit konfrontiert, mit einer Ur-Schuld-Szene, als der Vater bei Waldarbeiten ausgerechnet dann vom Baum erschlagen wurde, als sie ihm die Jause bringen wollte, mit Freunden und jäh unterbrochenen Lieben von einst. Rasch wird ihr klar: Mit diesem Kapitel ihres Lebens hat sie noch nicht abgeschlossen. Die mit dem Lehrer Martin verheiratete Frau lässt sich mit Jugendliebe Jurij ein. Einst im slowenischen Kulturverein galten sie allen als Paar. Als sich Jurij radikalisierte, ging sie auf Distanz.
Maja Haderlap verbindet diese private Wiederbegegnung in vielfacher Weise mit der politischen Vergangenheit. Die zeitweise Ächtung des Slowenischen unter den Deutschsprachigen, der schwierige Umgang der Volksgruppen miteinander, die politische Eskalation - das alles wird nun in der Erinnerung wieder lebendig und setzt sich in ihren Träumen fest. Mira findet am Dachboden Unterlagen aus ihrer Studienzeit, als sie für eine Arbeit über die Erwerbstätigkeit von ungelernten Frauen zahlreiche Interviews führte. "Sie wollte die ungelernten Arbeiterinnen, mit denen sie aufgewachsen war, in einem besonderen Licht zeigen. Sie wollte nie etwas Besseres sein, höchstens anders, wenn auch ähnlich."
Unter den damals Interviewten befindet sich auch Miras Mutter. Eine tolle, starke, unerschrockene Frau, befindet Mira beim Wiederlesen, und erinnert sich daran, wie sehr sie sich nach dem Tod des Vaters gegen Nachstellungen der anderen Männer zu wehren hatte. Mira versucht einen Neuanfang mit Anni, überredet sie zu einem Vernissagebesuch (unschwer als Event im Liaunig-Museum in Neuhaus erkennbar), und sucht das offene Gespräch. Anni reagiert irritiert. "Eine Tochter, die mit der eigenen Mutter befreundet sein will, da kommt doch etwas durcheinander, überlegte Anni. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie Miras Besorgtheit gespürt hätte. Wie schön ist es doch, wenn sich eine Tochter Sorgen um die Mutter macht!"
Im letzten Teil erweitert Haderlap ihre Mutter-Tochter-Geschichte um die Frauengeneration davor. Beim Zeichnen wird Anni selbst wieder zum Kind und erinnert sich an ihre Mutter Agnes. Es sind durchaus ambivalente Erinnerungen. "Wenn ich meine Mutter zeichnen wollte, würde ich sie als dunkle Bergkönigin zeichnen, die im Eis lebt und die Eigenschaft hat, an manchen Tagen als Riesin aufzutreten, an anderen hingegen als durchsichtiges Geschöpf, überlegte Anni." Maja Haderlap hat ihnen mit ihrem Roman allen ein Denkmal gesetzt - den Nachtfrauen, den Eisriesinnen und den Bergköniginnen.
(S E R V I C E - Maja Haderlap: "Nachtfrauen", Suhrkamp Verlag, 294 Seiten, 24,70 Euro; Lesungen am 19. September, 20 Uhr, im Kasino am Schwarzenbergplatz in Wien, 20. September im Literaturhaus Graz, 21. September im Literaturhaus Salzburg)