1)Mit dem Platzen der Jamaika-Verhandlungen stürzt Deutschland in eine schwere politische Krise, manche Beobachter sprechen sogar von der schwersten Regierungskrise seit 1949. Die FDP ist aus den Verhandlungen ausgestiegen, damit fehlt Angela Merkel die nötige Mehrheit für die Neubildung einer Regierung. Die SPD hat sich schon am Wahlsonntag als Koalitionspartner aus dem Rennen genommen, AfD und Linke kommen als Verbündete nicht infrage. Eine Minderheitsregierung ist, so scheint es, die einzige Option, um Neuwahlen zu verhindern.
Die Situation in Österreich ist in keiner Weise vergleichbar. Würde Türkis-Blau scheitern, gäbe es immer noch die Option einer rot-blauen Koalition, allenfalls das Projekt einer türkis-roten Koalition. Der deutschen Ausweglosigkeit stehen in Österreich mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Optionen (Minderheitsregierung) entgegen.
2)Inhaltlich liegen Lichtjahre zwischen Türkis-Blau und Jamaika. Zwischen ÖVP und FPÖ ist die Schnittmenge groß, nicht nur im Bereich von Asyl und Migration, auch bei Wirtschaft, Steuern (allgemeine Entlastung), Bildung (Festhalten am Gymnasium), Wissenschaft (Studiengebühren), in der Gesellschaftspolitik (Ehe für Rolle, Familienpolitik). Jamaika ist ein heterogenes Gebilde, CSU und Grüne sind ungefähr so weit auseinander wie FPÖ und KPÖ.
3)In Österreich haben ÖVP und FPÖ, die inhaltlich in vielen Fragen (natürlich nicht in allen siehe Europa, Kammerzwang, Entlastung der untersten Einkommen, Ausweitung der direkten Demokratie) am selben Strang ziehen, 57,5 Prozent der Wähler hinter sich. Die Berliner Vierertruppe kommt gerade einmal auf 52,5 Prozent, von der inhaltlichen Heterogenität abgesehen.
4)Anders als bei Jamaika drängen in Österreich beide Teile in die Regierung. Der FPÖ ist die Lust auf eine weitere fünfjährige Legislaturperiode auf der Oppositionsbank längst vergangen, deshalb der starke Drang nach einer Regierungsbeteiligung im freiheitlichen Lager. Die FDP in Deutschland fürchtet hingegen, als einer der drei Juniorpartner komplett unter die Räder zu kommen, deshalb ist Christian Lindner denn auch ausgestiegen aus den Verhandlungen.
5)Nicht nur FPÖ und FDP, auch SPÖ und SPD trennt eine völlig unterschiedliche Ausgangsposition. In Deutschland können sich die Sozialdemokraten höchstens Hoffnungen auf die Rolle des Juniorpartners in einer Regierung machen, deshalb zieren sich Martin Schulz und die SPD. Sollte Türkis-Blau scheiterte, wovon derzeit kaum auszugehen ist, könnte die SPÖ hingegen wieder ins Kanzleramt einziehen, mit oder ohne Christian Kern. Größer könnte der strategische Unterschied nicht sein.
6)Auch die Rolle des Bundespräsidenten ist schwer vergleichbar. In Berlin sind dem Staatsoberhaupt die Hände ungleich stärker gebunden, das Jahr 1933 lässt grüßen. In Österreich könnte der Bundespräsident Kanzler und Regierung umgehend in die Wüste schicken, Neuwahlen können leichter vom Zaun gebrochen werden. In Österreich sind Neuwahlen so wahrscheinlich wie ein Lottosechser für den Schreiber dieser Zeilen.