Viele stehen noch unter dem Eindruck der bisweilen unterirdischen Konfrontation zwischen Christian Kern und Sebastian Kurz am Sonntag Abend auf Puls4. Im Vergleich dazu gingen die Herren Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer im berühmten unmoderierten Duell auf ATV nahezu gesittet um. Kern kämpft um sein politisches Überleben und zog alle Register. Auf Twitter tippte ich "Kern dreht voll auf" ein, worauf mir entgegnet wurde: "Aufgedreht? Nein, überdreht." Vielleicht ist es Kern gelungen, einige Unzufriedene, die Grün, Pilz wählen wollten, auf seine Seite zu ziehen. Der Profiteur des Duells saß gar nicht am Tisch - Heinz-Christian Strache.

Ungleich zivilisierter ging es Stunden zuvor in Graz zu. Nach dem Halbmarathon traf ich zufällig eine Gruppe junger Studenten, die die verbreitete Meinung, die heutige Jugend sei unpolitisch, Lügen straft. Eine Stunde debattierten wir, natürlich war man an Hintergründen über Silberstein & Co. interessiert. Was mich angenehm überrascht hat, war, wie informiert, interessiert, prononciert die Jugend diskutierte. Über die Zukunft unseres Landes mache ich mir weniger Sorgen.

Nicht nur bei dem Gespräch, seit Wochen fällt mir eine Sache auf, die in Frankreich oder in den USA Usus ist, in Österreich bisher ein Tabu war: dass man in kleiner oder weniger kleiner Runde enthüllt, wen man wählt bzw. welche der Kandidaten in der engeren Auswahl sind. Sogar am Arbeitsplatz. Sehr viele  Gesprächspartner wissen zwar immer noch nicht, wem sie die Stimme am Sonntag geben wollen. Zumindest haben sie den Kreis der Kandidaten eingegrenzt.

Dass man sein persönlichen Präferenzen nicht hinter dem Wahlgeheimnis versteckt, mag auch damit zu tun, dass diesmal Kandidaten zur Wahl stehen, für die man sich nicht genieren muss. Zu Faymann, Spindelegger, Stronach konnte und wollte sich niemand outen. Kern, Kurz, Strache, Lunacek, Strolz, Pilz haben jeweils eindeutige Profile, die man goutieren, in Zweifel ziehen, ablehnen kann. Schämen muss man sich allerdings nicht, wenn man Partei ergreift.

Solche offen Debatten sind nur möglich wegen der glücklicherweise, fortschreitenden Entparteipolitisierung der Arbeitswelt. Nach 1945 hatte sich SPÖ und ÖVP das ganze Land untereinander aufgeteilt. Wer Karriere im Staat, in der Verwaltung, im staatsnahen Bereich machen wollte, brauchte ein Parteibuch. So schuf man den entmündigten, eingeschüchterten Bürger. Die Wirtschaft ist heute entstaatlicht, nur in wenigen Bereichen ist die Entkoppelung noch nicht vollzogen.

Das Wahlgeheimnis ist ein hohes Gut in der Demokratie, weil es politischen Druck im Wahllokal einen Riegel vorschiebt. Offen oder öffentlich im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz über seine politischen Präferenzen zu streiten, ist Ausdruck einer neuen politischen Mündigkeit, die der Gesellschaft gut tut. Die im TV-Duell zelebrierte Schmutzkübelkampagne  konterkariert den zivilisatorischen Fortschritt.