Ein Klick genügt, um ein Gefühl zu bekommen, wie falsch Umfragen sein können. Vor dem ersten Durchgang zur Bundespräsidentenwahl im letzten Jahr wurden 25 Umfragen von den Medien in Auftrag gegeben, 24 sahen Alexander Van der Bellen als knappen Gewinner vorne. Bekanntlich entschied Norbert Hofer den ersten Durchgang klar für sich, mit rund 35 Prozent und einem Vorsprung von 14 Prozentpunkten auf den ehemaligen grünen Parteichef. Wiederholt sich die Geschichte?
Wenn man sich derzeit in SPÖ-Kreisen nach den Wahlchancen erkundigt, werden drei unterschiedliche Versionen aufgetischt. Auch unter Verweis auf die US-Wahlen und das Brexit-Votum, die anders ausfielen als von Meinungsfroschern prognostiziert, meinen die einen, die Sache sei ja noch lange nicht gelaufen sei, Umfragen seien nicht einmal das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Andere wiederum gehen zum Gegenangriff über und werfen den Journalisten vor, bei Kurz "alles durchgehen zu lassen." Aber es gibt auch jene, die wie einer hochrangiger SPÖ-Politiker auf die Frage, wie zäh der Wahlkampf in den nächsten Wochen sich gestalten werde, unverblümt einräumen: "Sehr zäh, sehr, sehr zäh."
Dass da viel Autosuggestion mitschwingt, zeigt sich spätestens nach der Gegenfrage, die zumeist lautet: "Können Sie mir sagen, warum der Kurz so zieht? Was hat er, dass sie ihm alle nachlaufen?" So weit ist man allerdings noch nicht - wie einst der österreichische Kicker Anton Pfeffer, der in der Pause nach einem 0:5 Rückstand gegen Spanien auf die Frage, wie das Match ausgehen werde, die berühmte Formulierung prägte: "Hoch werden wir es nicht mehr gewinnen." Österreich kam mit 0:9 unter die Räder.
Über den Sommer hat ein bemerkenswerter Rollenwechsel stattgefunden. In der Vergangenheit war es immer die Volkspartei, die einen Pleiten-Pech-und Pannen-Wahlkampf geführt hat und mit Querschüssen aus eigenen Reihen zu kämpfen hatte. Diesmal läuft es unrund für Kern. Zuerst kehrte er den sozialliberalen Kanzler hervor, ehe er auf Klassenkampf ("hol dir, was dir zusteht") schwenkte. Mit seiner Forderung, Kurz müsse doch als Vizekanzler in die Koalition eingebunden werden, holte er sich eine schmerzliche Abfuhr. Beim Mauerbau am Ballhausplatz zog der Kanzler noch rechtzeitig die Notbremse. Schlimmer sind die internen Differenzen. Als Kern meinte, er werde als Zweiter in Opposition gehen, replizierte Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl postwendend: "Opposition ist Mist." Dass Niessl und Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil dem Wahlauftakt fern geblieben sind, fiel genauso auf wie Doskozils Doppelinterview mit dem Erzfeind, mit Sebastian Kurz, im Standard. Bei den jüngsten Enthüllungen im „Profil“ über offenkundig von Ex-Kern-Berater Tal Silberstein in Auftrag gegebene Kurz-Schmuddelvideos drängt sich eine Frage auf: Wer aus dem Innersten der SPÖ hat ein Interesse, den Medien solche brisanten Unterlagen zuzuspielen?
Die Volkspartei liegt hingegen im Basti-Fieber. Alle Teil- und sonstige Organisationen haben sich ein Schweigegelübde auferlegt, alle scharen sich hinter dem Hoffnungsträger (zumindest bis zum Wahlsonntag – wehe, wenn Kurz nicht das erwartete Ergebnis einfährt). Im Wahlkampf selbst sprengt Kurz alle Rekorde, der Zulauf bei Veranstaltungen und auf der Straße ist gewaltig. Zum Wahlkampfauftakt in zwei Wochen in der Stadthalle im tiefroten Wien werden 8000 Fans erwartet, die SPÖ konnte letzten Freitag in Graz nur rund 3000 Genossen und Kern-Fans aufbieten. ÖVP-intern versucht man die Euphorie zu dämpfen – nach dem Motto Hochmut kommt vor dem Fall.
Die ÖVP liegt seit der Übernahme der ÖVP durch Kurz vor genau vier Monat relativ stabil bei über 30 Prozent - und somit deutlich vor SPÖ und FPÖ. Kern gab sich vor dem Sommer stets zuversichlich, dass er in den - diese Tage startenden - Diskussionen und TV-Duellen noch das Steuer herumreissen könne. Naja, den Vorsprung kann Kurz sicherlich noch einbüßen, allerdings in erster Linie durch schwere Schnitzer und eigene Patzer. Das Rennen ist also noch nicht entschieden.