Der Wahlkampf mündet in diesen Tagen in seine heiße Phase, eine Frage beschäftigt zunehmend Freund und Feind: das Phänomen Kurz. Was hat der Spitzenkandidat der ÖVP, was andere nicht haben? Warum der Hype? Warum genießt Sebastian Kurz einen so gewaltigen Zulauf, warum diese nahezu religiös geprägte, politische Heilserwartung in den 31-jährigen Außenminister, nach Alois Stöger immerhin das zweitälteste Mitglied der Regierung?

Was vor allem den politischen Gegner, und da in erste Linie die SPÖ stutzig macht: Beim Sommergespräche im ORF wurde die Schließung der Mittelmeerroute mit keinem Wort erwähnt, thematisch hat sich der Wahlkampf von Kurz' Leib und Magenthema längst wegbewegt, und dennoch ist seine Popularität ungebrochen, weisen die Umfragen, die immer öfter auf die Öffentlichkeit einprasseln, keine Zacken nach unten auf. Ist Kurz überhaupt zu schlagen, ist ihm der Wahlsieg noch zu nehmen?

Vor allem in der SPÖ steht man vor einem Rätsel, und da wird dann gern die Theorie aufgetischt, Kern stehe für Inhalte, Kurz für Emotionen, Kern für Politik, Kurz für Populismus. Stimmt diese Verknappung überhaupt? Ist das nicht eine unerlaubte Verkürzung der Dinge? Gab es nicht auch um Kern bis zum Jänner einen gewaltigen, PR-getrieben Hype, ehe dieser einbrach, weil der SPÖ-Chef keine Neuwahlen vom Zaun zu brechen wollte - und mit einem Schlag zum Kompromisskanzler, zum Altpolitiker herabgestuft wurde, der in den Niederungen der Politik angekommen ist, während Kurz, der fünfmal (!) länger der Regierung angehört als Kern, offenbar in einer anderen Liga spielt?

Experten weisen darauf hin, dass Kurz bereits mit einem gewaltigen Vorsprung in diese von ihm angezettelte Neuwahl ging. Ihm gelang es, seine hohen Popularitätswerte als Außenminister nach Übernahme der ÖVP automatisch auf die Partei zu übertragen, deshalb reagiert in der Volkspartei eine Art  freiwilliger Kadavergehorsam, der bereits so ausgeprägt ist, dass beim letzten informellem Parteivorstand, wo das Parteiprogramm präsentiert wurde, die schriftlichen Unterlagen, die an allen ÖVP-Granden ausgeteilt wurden, nach der Sitzung wieder eingesammelt wurden - damit die Papiere ja nicht über die Hintertüre den Weg in die Medien finden.

Seine Popularität fußt natürlich auf seiner Position in der Flüchtlingskrise, aber, wie sich derzeit langsam herausschält, weniger wegen des Inhalts, sondern wegen der Haltung, die er einnahm: Kurz besitzt in der Flüchtlingsfrage eine hohe Glaubwürdigkeit. Er war einer der ersten, der die Dinge beim Namen nannte, wie es im deutschen Wahlkampf so schön heißt, bereits früh „klare Kante“ zeigte, keine Rücksicht auf die Politik, auf Verhandlungen, auf allfällige diplomatische Verwicklungen in Brüssel und sonstwo nahm, und als einer der Ersten aussprach, was sich viele dachten, aber nicht zu sagen wagten: dass sich der politische Mainstream in der Causa auf dem Holzweg befand.Nicht, dass man nichts für Flüchtling überhat - aber in so großer Zahl, in diesem Ausmaß. Und vor allem eines: Niemand hatte eine Antwort, wie es mittel- und langfristig weitergehen sollte, niemand bot glaubwürdige Perspektiven. Dass Österreich und Europa moralisch verpflichtet sind, Personen, die vor Krieg, Terror und Verfolgung flüchten, aufzunehmen, ist eine ethische Feststellung, aber keine politische Perspektive. Und der geneigte Bürger will von Politikern keine Sonntagsreden, sondern politische Antworten.

Kurz spricht nicht nur eine klare Sprache, ohne politische Schnörkel, er ist nicht nur handsome, slimfit und der ideal Schwiegersohn. Was geflissentlich übersehen wird: Kurz trifft auch in anderen Fragen - abseits von Migration, Integration und Flüchtlinge - den Nerv der breiten Mehrheit. Bereits beim Linzer Parteitag am 1. Juli, wo er zum Nachfolger von Reinhold Mitterlehner gewählt wurde, ließ er es in seiner Rede, die von den viele Kommentatoren als nichtssagenden Geschwafel abgetan wurde, durchschimmern: Kurz spricht gekonnt die von Politik und Behörden frustrierten Mittelschicht an, neun von zehn Österreicher fühlen sich der Mittelschicht zugehörig. Und da ist er ungleich schlauer, smarter als FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache.

Kurz stellt keineswegs in Abrede, dass sich Österreich in den letzten Jahrzehnten hervorragend entwickelt hat, (anders als Strache), dass wir auf unser Land stolz sein können, dass das Gesundheits-, Sozial- andere Systeme ganz gut funktionieren. Gleichzeitig wissen sehr viele aus eigener, sehr schmerzhafter Erfahrung, dass ihm oder ihr der Staat ziemlich viel Geld zu Monatsende, wenn man auf den Gehaltszettel blickt, wegnimmt, dass, wenn man ein Start-Up oder einen Betrieb betreibt, der Staat sich in eine bürokratische Kracke verwandelt, dass Spitäler mit modernsten Geräten und Topmedizinern ausgestattet sind, wenn man aber als Kranker in ein solches Spital muss, irgendwie einen das Gefühl beschleicht, dass man als Kranker doch nur eine Nummer ist und der Heilungsverlauf ein kleines Vabanquespiel ist.

Der politische Gegner wird nun während der heiße Phase alles dransetzen, um den Überflieger Kurz zu entzaubern, wieder auf den Boden zurückzuholen. Kern, Strache & Co müssen sich was besonderes einfallen lassen, sonst werden sie sich die Zähne ausbeißen. Dass Kurz seit 2011 in der Regierung sitzt, seit 2011 für die Integration zuständig, seit 2013 bei allen EU-Entscheidungen mit am Tisch saß, auch bei der Öffnung der Grenzen in Nickelsdorf im Sommer 2015 eine Rolle gespielt hat (in Robin Alexanders Buch „Die Getriebenen“ nachzulesen, in dem er eine lesenswerte Chronologie der Entscheidungen in der Staatskanzleien, vor allem in Berlin, ausgerollt wird), also in gewisser Weise mitverantwortlich am Unbehagen an den politischen Eliten ist, ist Dutzendemal – auch von mir in Leitartikel, großen und wenigen großen Kommentaren - geschrieben worden, sticht aber nicht, prallt ab (ich habe eine Theorie: Kurz punktet vor allem bei den Nichtpolitischen, Apolitischen, die aus Enttäuschung oder Desinteresse mit der Politik nichts mehr am Hut haben – und die lesen nicht meine Kommentare). 

Kurz verströmt die Aura des Neuen, des Quereinsteigers, des Spitzenkandidaten, der die Politik der Kompromisse, des Mauscheleien, des koalitionären Hickhacks und politischen Stillstands verachtet - und der zu neuen Ufern aufbringt. Gerade wegen seiner früheren Positionierung in der Flüchtlings- und Migrationskrise, in der gegen den Strich gebürstet hat, besitzt er eine hohe Glaubwürdigkeit. Zum einen sagen jetzt alle, was er früher gefordert hat, zum anderen wird ihm angesichts der Schließung der Balkanroute ein hohes Maß an Durchsetzungsfähigkeit attestiert. Die Plakate, die Slogans sind mehr als ein billiger Marketing- und PR-Schmäh, die Slogans sind durch eine gewisse politische Glaubwürdigkeit unterfüttert.

Immer mehr Experten vertreten die These, Platz eins sei Kurz kaum noch zu nehmen – es sei denn, Kurz macht kapitale Fehler, unerwartete Entwicklungen in Österreich oder in aller Welt (Terror) tauchen auf, oder Kern mutiert zum Wunderwutzi. Ich lasse mich auf keine Spekulationen ein. Dass die Gefahr groß ist, dass nun tief in den Schmutzkübel gegriffen wird, steht außer Frage. Ich meine aber,eine solche Kampagne fällt auf den Autor, auf den Erfinder zurück.