Wie Gott in Frankreich. So muss sich W. O. Bentley an jenem sonnigen Tag gefühlt haben. Er sitzt am Volant und steuert seinen Dienstwagen eine leere Landstraße hinunter. Entspannt legt er 90 Meilen pro Stunde auf, die Bäume am Rand des Weges lässt die Geschwindigkeit zu einer grünen Wand verschwimmen. Der Reihensechszylinder säuselt nicht minder entspannt bei 2500 Touren. Er ist der „King of the Road“.
Seine Frau Audrey genießt den Ausflug nach Frankreich von der Rückbank aus. Das Gesicht ihres Gatten sieht sie nicht. Muss sie auch nicht. Die Reflexion seiner Augen im Innenspiegel genügt, um zu wissen, dass er lächelt. Dass er glücklich ist. Denn für den Mann, dessen riesenhafte Rennwagen gerade drei Mal hintereinander die 24 Stunden von Le Mans gewonnen haben, ist der 8-Litre die Krone seiner Schöpfung. Seine Eintrittskarte in den exklusiven Klub der Luxushersteller. Auf Augenhöhe mit Bugatti, Duesenberg, Mercedes und Rolls-Royce. Besseres hatte die Autowelt Anfang der 1930er nicht zu bieten. Begeistert berichtete der Konstrukteur von einer Tour Dieppe–Cannes. Vom nördlichsten Zipfel Frankreichs bis an die Côte d’Azur im Süden. Einmal durch die Grande Nation. „Wir haben es an einem Tag geschaŠt, ohne die Scheinwerfer einschalten zu müssen.“
Tausende Kilometer lang hatte Audrey besagtes Bild von W. O. von der Rücksitzbank aus vor Augen. Schließlich beauftragte sie den Künstler Ray Nockhold, es auf Leinwand zu bannen. Bentleys großes Glück für immer hinter Firnis festzuhalten. Denn jenseits des Atlantiks brauen sich dunkle Wolken zusammen.
Die Macht der acht. Richard Charlesworth fühlt sich nicht wie der „King of the Road“. Zwar sitzt der Schnauzbartträger im eleganten Nadelstreif am selben Volant, an dem W. O. Bentley vor fast 90 Jahren drehte, aber vor ihm tut sich keine leere Landstraße auf, sondern zäher Kolonnenverkehr zur Rushhour. Die Zeit hat sich geändert. Der 8Litre nicht. Stoisch steckt er das Stopandgo weg, der Reihensechszylinder säuselt. Das Triebwerk war 1930 Hightech. Eine obenliegende Nockenwelle dirigiert seine Ventile. Pro Zylinder verwalten vier von ihnen das Gemisch im Brennraum, von denen jeder 1,3 Liter misst. Zylinderkopf und Motorblock sind in einem Stück gegossen – die damaligen Dichtungen hätten angesichts der Leistung von 200 bis 230 PS hilflos w. o. gegeben. „W. O. wollte ein Auto bauen, in dem es auch bei einem Tempo von 160 km/h noch leise ist“, erzählt Charlesworth. Und es stimmt. Obwohl wir inzwischen beherzt über die Autobahn heizen, muss er die Lautstärke seiner Stimme nicht nach oben schrauben. Die Tachowelle treibt den Zeiger des SmithsInstruments wieder auf 90 Meilen, während der des Drehzahlmessers bei 2500 Umdrehungen verharrt. „Man kann mit dem 8Litre sehr komfortabel im modernen Verkehr mitschwimmen oder lange Strecken fahren“, sagt Charlesworth. Die Limousine mit handgefertigtem Aufbau der Karosseriefirma Mulliner war schon in den USA, in China und in ganz Europa unterwegs.
Blaues Blut. Charlesworth ist einer der wenigen bei Bentley, der ihn fahren darf. Überhaupt hat er wahrscheinlich den besten Job, den man beim britischen Autohersteller haben kann. Er betreut nämlich den Fuhrpark klassischer Fahrzeuge. Und die königliche Kundschaft. „Wir sind einer der wenigen Hoflieferanten, die zwei royale Siegel führen. Das von Queen Elizabeth II. und das des Prince of Wales. Eine große Ehre“, und der Stolz in seiner Stimme gewinnt für einen Moment die Oberhand. Unter anderem bei der Entwicklung der State Limousine für das goldene Thronjubiläum im Jahr 2002 hat er mit der Monarchin zusammengearbeitet. Bei der endgültigen Trennung der Marke von RollsRoyce – RR ab dann unter BMW – ist Elizabeth II. Kundin bei Bentley geblieben. „Die langjährige Beziehung zu den Menschen, die ihre Autos speziell nach ihren Wünschen gebaut haben, war ihr wichtiger als der große Name.“ Unter uns: Eine Frage an einen, der die Queen kennt. Ist sie ein Autofan? „Ich kenne Ihre Majestät nicht, aber ich habe sie getroffen“, korrigiert er höflich. „Doch ich würde sagen, sie ist durchaus eine Enthusiastin.“
Noblesse oblige. Von einem Vertrag als Hoflieferant ist Firmengründer W. O. Bentley 1930 weit entfernt. Aber mit dem 8-Litre hatte er jetzt zumindest einen Fuß in der Tür des Buckingham-Palasts. „Während der Entwicklung des Autos waren die Ingenieure zum Testen in Frankreich. Genauso wie die Rolls-Royce-Techniker, die gerade am Phantom II gearbeitet haben“, erzählt Charlesworth, während er den etwas widerspenstigen zweiten Gang geräuschvoll zähmt. „Wie Jungs eben so sind, haben sie ihre Spielzeuge getauscht. Es gibt ein Memorandum vom Cheftester an Sir Henry Royce, in dem steht, dass der Bentley das bessere Auto ist. Er hatte zweimal so viel Leistung.“ Schließlich war der Luxusliner, von dem 100Stück gebaut werden sollten, mit seinem Achtlitermotor das Fahrzeug mit dem größten Hubraum, das damals auf der Insel gebaut wurde. Mit einem Preis von 1850 Pfund war er auch erheblich teurer als der Rolls-Royce. Den Wagen mit der Chassisnummer 1 lieferte Bentley an den Entertainer Jack Buchanan, den zweiten machte W. O. zu seinem Dienstwagen. „Er hat sich für das Modell mit kurzem Radstand entschieden“, sagt Charlesworth.
Kurz bedeutet in diesem Fall epische 3,7 Meter. Der des aktuellen Bentley Mulsanne ist mit 3,3 Metern schon nicht unlang . . . Dann geht alles ganz schnell. Die Wehen der Weltwirtschaftskrise wogten über den Atlantik nach Europa, und selbst bei den Superreichen saß das Geld nicht mehr locker. Dass W. O. zwar ein guter Konstrukteur, aber kein Kaufmann war, kam erschwerend hinzu. Trotz all dem blickte Bentley positiv gestimmt in die Zukunft: Er verhandelte mit dem Flugzeughersteller Napier wegen einer Übernahme, doch der wurde am Ende um ein paar Hundert Pfund von einem Unbekannten überboten. Erst nach Tagen der Ungewissheit war klar: Ausgerechnet Erzrivale Rolls-Royce hatte die Marke, die seinen Namen trägt, gekauft. Und ja, es kam noch schlimmer: Nach zwei Jahren mit seinem Dienstwagen musste Bentley den 8-Litre bei einem Rolls-Royce-Händler abgeben. Es war einer der traurigsten Tage seines Lebens.