Trotz hoher Sicherheitsvorkehrungen können Anschläge bei der Fußball-EM in Frankreich nicht ausgeschlossen werden. "IS-Kämpfer sind weiterhin präsent", sagt der französische Islamexperte Gilles Kepel. Die Terrorzelle hinter den Anschlägen von Paris im November und Brüssel im März sei jedoch nicht mehr "einsatzfähig", die Attacken aus politischer Sicht ein "Fehlschlag" gewesen.
Anders als die Terroranschläge von Paris im Jänner, bei denen Journalisten des angeblich islamfeindlichen Satireblatts "Charlie Hebdo", Juden und "Abtrünnige" getroffen wurden, seien jene vom November "willkürlich" gewesen, so Kepel: "Ziel waren Bezirke mit einem hohen Anteil an Migranten und Muslimen, was im Besonderen auf Saint Denis zutrifft, wo das Stade de France steht."
Unverständnis unter muslimischer Bevölkerung
Das habe innerhalb der muslimischen Bevölkerung zu großem Unverständnis geführt, betont der Politikwissenschafter. "Ich arbeite im Rahmen meiner Forschungstätigkeit viel in Gefängnissen. Viele der muslimischen Insassen haben mir gesagt, sie hielten die Attentäter für 'einen Haufen Idioten und Verrückte', weil auch ihre Verwandten und Freunde zum Zeit des Anschlages im Stadium gewesen sind."
Generell hätten islamistische Terroristen immer zwei Ziele: Einerseits ihren Gegnern so großen Schaden wie möglich zuzufügen, andererseits die muslimische Bevölkerung zu einem gemeinsamen Kampf gegen die Feinde zu motivieren. Mit letzterem seien die Attentäter in Paris und Brüssel aber gescheitert, erklärt Kepel. "Politisch war das kein Erfolg." Das würden mittlerweile auch Rekrutierer jihadistischer Gruppen so sehen.
Nicht mehr einsatzfähig
Zwar würde ein eventueller Anschlag auf ein Fußballspiel - im Stade de France findet heute das Eröffnungsspiel der EURO statt - "derselben Logik folgen" wie die Attacken vom November, sagt der Jihadismusexperte. "Es sieht aber nicht so aus, als ob die Terrorzelle hinter den Anschlägen von Paris und Brüssel noch einsatzfähig wäre."
Der beste Beweis dafür sei der Umstand, dass die Anschläge auf den Brüsseler Flughafen und die Metrostation Maelbeek, anders als jene von Paris, "überhaupt nicht geplant" gewesen seien. "Sie haben sich dazu entschlossen, Selbstmord zu begehen und dabei möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen", so Kepel.
Mit dieser offensichtlich überhasteten Aktion habe sich die Gruppe aber auch ihres "Zufluchtsorts in Belgien" beraubt und die belgischen Behörden regelrecht gezwungen gegen sie vorzugehen: "Alle Zugeständnisse, die die lokale Polizei den Islamisten gemacht hatte, besonders (im Brennpunktviertel, Anm.) Molenbeek, waren plötzlich weggefegt."
Spiegelbild rechtsextremer Parteien
Politisch erklärt Kepel den radikalen Islamismus übrigens als "Spiegelbild" rechtsextremer Parteien. Beide seien auf den Niedergang der kommunistischen Partei in Frankreich zurückzuführen sowie auf den damit verbundenen Umstand, dass sich die unteren und mittleren Gesellschaftsschichten nicht länger durch linke Parteien vertreten fühlten.
Auf die unter anderem durch Arbeitslosigkeit und Perspektivenlosigkeit begründete Existenzangst dieser Gruppen würden sowohl die extreme Rechte als auch der Islamismus mittels Identitätspolitik reagieren: "Die einen bauen dabei auf populistischen Nationalismus, die anderen auf eine populistische Auslegung der Religion."
Traditionelle Parteien müssten sich neu erfinden
Für die traditionellen Parteien in ihrer jetzigen Form sieht der Politikwissenschafter im Kampf gegen die extreme Rechte und den Islamismus schwarz. Diese hätten im Kampf um Wähler nur die Möglichkeit "zu verschwinden und sich neu zu erfinden", glaubt Kepel. "Das ist nicht unwahrscheinlich. Die Sozialisten existieren eigentlich schon nicht mehr: Sie werden von inneren Konflikten zerrissen: Das Trennende ist bedeutender als das, was sie eint. Und dasselbe gilt für die Konservativen."
Gilles Kepel (61) gilt als Frankreichs bekanntester Islamwissenschafter. Er unterrichtet unter anderem an den Elite-Universitäten "Sciences Po" und "Ecole Normale Superieure" in Paris. Sein aktuelles Buch "Terreur dans l'Hexagone" verkaufte sich bisher mehr als 100.000 Mal und erscheint im September auf Deutsch. Am Dienstagabend nahm er im Rahmen der Wiener Festwochen an der Diskussion "Is Europe Taking a Right Turn?/Rechtsruck in Europa?" im Burgtheater teil.