Auf die Euphorie vieler Brexit-Befürworter folgte in Großbritannien nur kurz nach der Abstimmung über einen Austritt des Landes aus der EU die Ernüchterung. Die Briten - sowohl die Bevölkerung als auch die Regierung - bekommen nun offenbar kalte Füße und wollen den Antrag auf Austritt hinauszögern. Dazu droht der Zerfall Großbritanniens.
In britischen Medien und in den sozialen Netzwerken haben sich Dutzende Brexit-Wähler gemeldet, die ihre Entscheidung rückgängig machen wollen. Wahlhelfer berichten von besorgten Bürgern, die ihr Kreuz neu setzen wollen.
Raus aus GB, rein in EU
Schottland will unverhohlen mit einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum raus aus Großbritannien und dafür gleich rein in die EU. Brüssel drängt unterdessen London immer stärker auf eine rasche Entscheidung, endlich den Austrittsantrag formell zu stellen.
Dem stellte sich zuletzt der britische Außenminister Philip Hammond klar entgegen. Nur Großbritannien habe das Recht, über den Zeitpunkt des Antrags auf Austritt zu entscheiden, betonte er. Damit dürfte er auch formal Recht haben, denn in Artikel 50 des Lissabon-Vertrags sind derartige konkrete Dinge im Fall eines Ausscheidens eines Landes nicht klar geregelt. Lediglich dass die Austrittsverhandlungen zwei Jahre dauern sollen, ist enthalten. Aber selbst dann gibt es die Möglichkeit einer Verlängerung solcher Gespräche - ohne konkretes Limit.
"Whathavewedone"
Unterdessen haben zahlreiche Briten, vor allem junge, die für den Brexit votiert haben, ihre Wahl bereut und wollen am liebsten gleich wieder wählen - diesmal für einen Verbleib. Die Petition für ein erneutes Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft hat eine ungeahnte Bewegung ausgelöst: Am Sonntagvormittag hatten bereits mehr als drei Millionen Menschen unterschrieben - Tendenz stark steigend. Auch der Hashtag "Whathavewedone" ist auf Twitter stark im Steigen. Von den 18-24-Jährigen hatten 75 Prozent für #Remain, den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Bei den über 65-Jährigen waren nur mehr 39 Prozent für den Verbleib.
Die EU-Spitzen wollen aber keine Phase der Unsicherheit haben. Deshalb müsse der scheidende britische Premier David Cameron - er will zwar erst im Oktober zurücktreten und den Austrittsantrag seinem Nachfolger überlassen - schon jetzt am Gipfel der Europäischen Staats- und Regierungschef Dienstag und Mittwoch kommender Woche den Austrittsantrag stellen. Dann könnten auch die Austrittsverhandlungen beginnen. Die EU-Kommission hat bereits ihre Weichen dafür gestellt und einen Chefverhandler aus Belgien dafür nominiert.
Sondersitzung am Dienstag
Ob das letzte Wort beim Brexit schon gesprochen ist und die Briten tatsächlich die EU verlassen werden, scheint trotz der Abstimmung noch offen zu sein. Welche Möglichkeiten es sowohl für die Briten als auch für die EU gibt, ist unklar. Es ist für die Europäische Union Neuland - noch nie hat es eine solche Situation gegeben. Das EU-Parlament wird in einer Sondersitzung am Dienstag knapp vor dem Gipfel der noch 28 Staats- und Regierungschefs in einer Resolution ebenfalls eine rasche britische Entscheidung verlangen.