Am Hauptbahnhof von Belgrad ziert ein XXL-Plakat das Eingangsportal. Es wirbt für ein neues Luxusviertel an der Save mit Wolkenkratzern, die dem Projekt den Spitznamen „serbisches Manhattan“ eingebracht haben. Das „Belgrade Waterfront“ soll mit dem Geld arabischer Investoren auch den schmucklosen Bahnhof neu entstehen lassen. Unterhalb des Plakats sitzen schon etliche Araber. Aber die sehen überhaupt nicht nach Geld aus. Sie sind auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg und auf dem Weg über die Türkei, Griechenland und Mazedonien in Belgrad gestrandet. Die serbische Hauptstadt hat sich zu einem Nadelöhr in die gelobte EU entwickelt, seit Ungarn die Grenze zu Serbien mit einem Zaun zu befestigen begonnen hat.
Bis zum Samstag campierten die Flüchtlinge in den Grünanlagen rund um den Bahnhof, wo die meisten mit dem Zug aus Mazedonien eintreffen und von wo sie dann mit dem Bus weiter in Richtung Grenzstadt Subotica fahren – wenn sie überhaupt noch Geld dafür haben und den mühseligen Weg nicht im Treck mit vielen Hunderten zu Fuß machen müssen. Dennoch orientieren sich auch die Wanderer an den Schienenwegen und landen hier.
Doch am Sonntag mussten die Flüchtenden dann noch einmal flüchten – diesmal vor dem einsetzenden Regen nach einer gefühlt ewigen Sonnenphase in Belgrad. Nun hocken sie auf Matratzen und auf Taschen in den ebenerdigen Parkdecks der Parkhäuser am Bahnhof. Es riecht nach Urin und Schweiß. Der warme Regen hat die Geruchssituation noch verschärft.
Regen nach der Hitzewelle
Noch am Samstag hatte es 40 Grad, erzählt ein Flüchtling, der zwischen den einzelnen verbliebenen Zelten und den Hinterlassenschaften dieses provisorischen Flüchtlingslagers auf dem lehmigen Boden steht. Am Montag schien der Himmel alles in der Vergangenheit Aufgesparte auf einmal auszulassen, sagt er. „Nenn mich einfach Arik“, sagt der junge Mann und lacht. Arik, der Edle. Er trägt schwarze Schuhe und Jeans, die Erdflecken aufweisen. Seinem Hemd sieht man die Strapazen der Flucht aus Nordsyrien an. Viele im Bristol-Park sind ausgesprochen redselig, doch niemand will sich fotografieren lassen, jeder möchte unter allen Umständen in der Anonymität bleiben.
Gut zwei Wochen trägt Arik seine Klamotten schon, die Habseligkeiten lagern in zwei roten, ausgebeulten Sporttaschen. Er zeigt auf ein Parkhaus, seine Familie ist vor dem heftigen Regen in das ebenerdige Geschoß des Parkhauses am gegenüberliegenden Luke-Delovica-Park geflüchtet. Nun sitzt seine Frau mit den kleinen Kindern zumindest im Trockenen. Er will nach Deutschland, dort lebt jemand aus seiner Familie. Arik ist Arzt und hofft auf einen Job in Europa. „Sie suchen doch Ärzte, oder?“, fragt er. Einige Flüchtlinge um ihn herum wollen wissen, wie weit die Ungarn denn mit ihrem Zaun sind.
Am Straßenrand sitzt ein Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, und gibt seiner Puppe die Flasche. Es hat braungelocktes Haar. Seine Mutter streicht mit dem Handrücken über die Wange. In dem Moment rollt ein Lastwagen direkt vor den beiden um die Ecke. Zwei junge Flüchtlinge spazieren fast gedankenverloren über die riesige Kreuzung zwischen Park und Bahnhof. Auch auf den gegenüberliegenden Trottoirs sitzen sie gelangweilt, unterhalten sich oder spazieren vor sich her.
Es gibt nichts zu tun
Es gibt nichts zu tun, man kann nur warten bis es weitergeht. Wann und wohin, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Ein Mann zeigt an einer Bushaltestelle das Visum in seinem Pass. Er hat auch ein Busticket. Einer klopft ihm auf die Schulter.
Gelegentlich rollt ein Bus aus Subotica an. Meistens gähnend leer. Wenn er den Busplatz am Zentralbahnhof verlässt, ist er voll. Alle wollen in die Grenzstadt, auch wenn es vielleicht schon zu spät ist und die Flucht über Kroatien oder Bulgarien weitergehen muss. Serbien hat sich zum zentralen Transitland auf der Balkanroute der Flüchtlinge entwickelt, seit Italien das Mittelmeer stärker kontrolliert und die Meldungen von ertrunkenen Syrern auch in den Flüchtlingslagern angekommen sind.
Die Griechen lassen die Menschen weiterziehen, bleiben will aber ohnehin kaum einer, weder in Serbien noch in Ungarn. Deshalb vermeiden es viele auch, in Serbien registriert zu werden, um nicht von Ungarn nach Serbien abgeschoben zu werden. Fingerabdrücke werden ebenso gefürchtet wie ein Bild oder ein Name in der Zeitung.
Und weil aus Mazedonien laut UNO-Flüchtlingshilfswerk und serbischen Behörden jeden Tag allein 2000 Menschen bei der Einreise registriert werden, dürften es weit über 4000 Flüchtende sein. Damit hat sich Belgrad zu einer Art Vorzimmer zum Wohnraum EU entwickelt. Die Lage erinnert allerdings eher an den Vorhof zur Hölle.
Es stinkt, der Müll liegt herum. Menschen starren ins Leere. Hoffnungsfrohe Gesichter sucht man vergeblich. Der Rasen ist zerschlissen von den Körpern, die seit Wochen auf dem Boden gelegen und gesessen haben müssen. Zwischendrin spielen Kinder, an den Rändern hängt Wäsche auf Zäunen, Leinen, Werbewänden. Rucksäcke, Taschen, Zelte stehen in großen Lacken, die der Regen hinterlassen hat – selbst in den Parkhäusern.
Es gibt kein Zurück
Die dunklen Wolken lassen das Chaos ein wenig weniger chaotisch aussehen, weil sie die Massen geteilt haben. Die Schlange vor den fünf mobilen Toiletten und dem Tanklaster, an denen die Trinkflaschen aufgefüllt werden, sind am Morgen noch klein. Alle schauen skeptisch in den Himmel, ob er noch einmal seine Pforte öffnet. Aber was sind schon so ein Regenguss und ein verdreckter Schlafplatz, wenn man den Krieg mit all seinem Grauen hinter sich gelassen hat, sagt ein Flüchtling neben Arik. Auch er wird weiterziehen. Es gibt derzeit ja kein Zurück mehr.