Nach 45 Jahren ist der "Tatort" also nun wieder ein Stückchen stärker in der Realität angekommen. Mark Waschke alias Kriminalhauptkommissar Robert Karow hat sich im Sonntagskrimi "Ätzend" als Mann mit einem männlichen One-Night-Stand geoutet: in einer kurzen Sequenz der Berlin-Folge war zu sehen, wie er in einer Hotelbar einem Mann zugelächelt hat. Schnitt. Nächste Einstellung: Mit nacktem Oberkörper raucht er die obligatorische „Zigarette danach“ auf seinem Balkon.
Wenige Sekunden, die die treue "Tatort"-Fangemeinde in Aufregung versetzte: "Karow ist schwul". Diese Meldung ging Sonntagabend um im Kurznachrichtendienst Twitter - und fast jeder und jede hatte eine Meinung dazu.
Eine Meldungslage, die seltsam anmutet. Aus mehreren Gründen: Als homosexueller Mann kann man im realen Deutschland seit Jahren alles werden: Bürgermeister, Parteivorsitzender, Künstler, Außenminister. Alles kein Problem. Alles keine große Aufregung mehr. Auch im deutschsprachigen TV stehen schwule Männerfiguren auf selbst bei Soaps an der Tagesordnung, sie waren in der "Lindenstraße" zu sehen oder bei "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Wenn es aber um eine der letzten moralischen Instanzen geht - dem sonntäglichen gemeinschaftlichen "Leichenschmaus" vor dem TV, dem "Tatort" - dann scheint alles anders. Dann kommt dem Outing eines Kommissars dem Outing eines Kickers der Nationalelf gleich.
Die Kommissare in der längstdienenden Krimireihe des deutschsprachigen Fernsehens hinkten lange Zeit der Realität hinterher: Es dauerte zum Beispiel 84 Folgen, bis die erste Frau die Ermittlungen übernehmen durfte: Nicole Heesters wurde 1979 zur Oberkommissarin befördert. Heute ist das alles kein Thema mehr. Maria Furtwängler war es sogar als Mutter eines Babys und ohne Partner an ihrer Seite erlaubt, Mörder zu jagen. Und die Schweiz hat mit Liz Ritschard ohnehin seit vielen Folgen eine lesbische Kommissarin. Das regte damals niemanden auf. Aber ein schwuler Mann im Polizeidienst? Da fällt dann plötzlich eine Bastion.
Die Rollenmodelle
Die Rollenbilder der Ermittler sind in den letzten Jahren vielfältiger geworden, die Privatleben auch: Neben den einsamen, ewig partnerlosen Wölfen (München) haben engagierte Mütter- und Familienväter im "Tatort" genauso Platz wie Frauen, die ihre Männer betrügen (Berlin), Krebspatienten (Wiesbaden), Alkoholiker (ehemals in Frankfurt) Ermittler mit Hang zum Psychopathen (Faber in Dortmund) oder solche, die einfach keine Zeit für ein Privatleben zu haben scheinen (Münster).
Das ist wichtig und gut so. Damit der "Tatort" aber der Realität nicht mehr länger nachhinkt, muss er noch ein bisschen was aufholen: Es fehlen zum Beispiel Depressive, Rollschuhfahrer, Beamtinnen und Beamten mit Herkunftsland China oder Irak, Transgender-Personen, Omas, Opas oder Ehamänner, die ihren Kommissarinnen-Gattinnen den Rücken freihalten.