Einen Termin für die nächste Nationalratswahl gibt es noch nicht, der Wahlkampf nimmt aber an Fahrt auf: Die ÖVP greift nun Bundeskanzler und SPÖ-Chef Christian Kern frontal mit einer Broschüre an, in der vor Rot-Grün gewarnt wird. Kern wird in dem von der ÖVP lancierten "Manifest" als Marxist im Sowjet-Stil mit Hammer und Sichel dargestellt. Die Broschüre ist nicht offiziell erhältlich, auch findet sich kein Link auf der Homepage. Die Kleine Zeitung ist allerdings im Besitz der 58-seitigen Schmähschrift.
Auf 58 Seiten werden Argumente gegen Kern und eine mögliche rot-grüne Bundesregierung aufgelistet, darunter zehn angebliche Verbote, unter denen das Volk bei einer solchen Koalitionsvariante zu leiden hätte. Die aufgelisteten Verbote sind so radikal, dass sie lächerlich wirken: "Du darfst keine Leistung zulassen", "Du darfst von Zuwanderern nichts einfordern", "Du darfst die Bürger nicht entlasten" oder "Du darfst den Jungen keine Chancen" geben. Als abschreckendes Beispiel wird immer wieder auf das rotgrüne Wien verwiesen, wo 55 Prozent der Mindestsicherungsbezieher leben, 36 Millionen jährlich an Gratismedien verteilt werden, die Arbeitslosigkeit bei 13,5 Prozent liegt und jedem Haushalt eine Gebührenlawine in Höhe von 400 Euro droht.
Am Abend konterte Kern auf Facebook. Von seinem Schreibtisch im Kanzleramt aus versuchte er in fünf Minuten die Vorwürfe der ÖVP zu entkräften - und zwar völlig sachlich, ohne Häme, ohne Untergriff. Wenn die ÖVP den Leistungsbegriff strapaziere, möge man doch über die 300.000 Österreicher diskutieren, die 40 Stunden pro Woche arbeiten, aber weniger als 1500 Euro verdienen. Der Kanzler widersprach auch dem Vorwurf, er habe kein Interesse an einem schlanken Staat, mit dem Vorschlag, den Wildwuchs bei der Forschungsförderung mit mehr als 200 Auszugsstellen zu beenden. "Da gehen dann einige Dienstautos drauf." Zum Schluss machte er einmal mehr Werbung für seinen 150-seitigen Plan A, den er in die Kamera hielt - und dann wenige Augenblicke später das schwarzes Vergleichsprodukt, das rotgrüne Manifest.
Anti-Kern Broschüre der ÖVP
"Das ist keine Wahlkampfbroschüre", erklärt ÖVP-Klubobmann Werner Amon im ORF-Mittagsjournal. Vielmehr werde aufgezeigt, was im Fall einer rot-grünen Koalition drohe. In Wien seien die Schulden unter Rot-Grün etwa von drei auf sechs Milliarden Euro gestiegen. Dass Kern in der Publikation in die Nähe der kommunistischen Gründerväter Marx und Lenin gerückt werde, rechtfertigte der ÖVP-Politiker mit den Umverteilungsplänen der SPÖ am Beispiel der kalten Steuerprogression. "Das ist schon gelebter Sozialismus", erklärte Amon.
Kern nahm's offenbar gelassen: Der Kanzler reagierte umgehend und wählte sich das vermeintliche Schmähbild des ÖVP-Flyers als Profilbild seines Facebook-Accounts.
Hintergrund der ÖVP-Aktion ist das Werben um die "Mittelschicht" (SPÖ-Diktion) beziehungsweise um den "Mittelstand" (ÖVP-Diktion). Die Broschüre ist offenbar die Reaktion auf die jüngste SPÖ-Kampagne, die diese Zielgruppe in den Mittelpunkt rückt. Kanzler Kern war dabei als Pizzabote ausgerückt und hatte Familien in ihren Wohnzimmern besucht.
"Wir wollen dem Mittelstand klar machen, was Kerns Politik bedeutet", so der Generalsekretär zu den Beweggründen für das "Rot-Grün Manifest". Das Papier unterstellt SPÖ und Grünen etwa, keine Leistung zuzulassen, von Zuwanderern nichts einzufordern, Bürger nicht entlasten zu wollen, Jungen keine Chance zu geben, Unternehmern keinen Erfolg zu erlauben, keinen schlanken Staat zuzulassen, Begabungen nicht zu fördern, Werte und Traditionen nicht zu erhalten und die Macht nicht aus der Hand geben zu wollen. Kern, der in der Broschüre als "Willkommenskultur-Kanzler" tituliert wird, verfolge das Ziel einer "linken Wende in Österreich", wie es in der Broschüre heißt. Von einer "Rückkehr in die links-linke Gedankenwelt der kommunistischen Gründerväter Marx und Lenin" ist die Rede.
In der SPÖ wollte man sich am Dienstag keine Irritation über die ÖVP-Kampagne anmerken und sich davon nicht provozieren lassen: "Wir kommentieren das nicht. Das richtet sich von selbst", hieß es aus der Parteizentrale. Einer von Kerns Mitarbeitern, Brian Schmidt, nahm die ÖVP auf die Schaufel und twitterte ein Bild aus dem Kanzleramt, auf dem mit Hammer und Sichel eine Pizza verzehrt wird. Auch SPÖ-Minister Jörg Leichtfried nahm es auf Twitter immerhin mit Humor. "Hammer und Sichel sind ja immerhin Teil des österreichischen Staatswappens ;)", schrieb Leichtfried.
"Koalition hat Ablaufdatum erreicht"
Für den Politikberater Thomas Hofer ist die Broschüre nur ein weiteres Indiz dafür, dass die Koalition ihr Ablaufdatum erreicht hat. "Man will nicht mehr miteinander, man kann auch nicht mehr miteinander. Die Frage ist nur, wer sagt's den Kindern und wie bös' reagieren die", zog Hofer im APA-Gespräch einen Vergleich zu einer Scheidung.
Die Broschüre selbst ist für den Kampagnenexperten nichts Neues. Es habe von der ÖVP schon mehrere Rot-Grün-Warnfibeln gegeben und auch die Wiener SPÖ habe im letzten Wahlkampf ein "Blaubuch" über die FPÖ herausgebracht. "Das kommt nicht das erste Mal vor." Der Stil der ÖVP-Broschüre sei "teilweise sehr plump" und "sehr lächerlich". Das sei aber Sinn der Übung solcher Fibeln, die vor allem der eigenen Funktionärsmobilisierung dienten, so Hofer. Dass in diesem Fall der Angriff auf Kern dazu komme, habe wohl damit zu tun, dass dieser mit seiner Wirtschaftsvergangenheit potenziell auch in die eigene Wählerschicht der ÖVP rein strahle.
Laut Hofer befindet sich die Politik jedenfalls längst in der Wahlauseinandersetzung. "Wir sind de facto im Wahlkampf, nennen wir es halt Vorwahlkampf. Die ÖVP hat dabei ein Problem. Sie muss Wahlkampf machen, ist aber kandidatentechnisch noch nicht so aufgestellt, dass alles aus einem Guss sein könnte", so Hofer in Anspielung auf die ÖVP-interne Personaldiskussion, laut der Außenminister Sebastian Kurz und nicht Vizekanzler Reinhold Mitterlehner den Spitzenkandidaten bei der Wahl geben könnte. Und die SPÖ habe die "Herausforderung Wien und einen Nachholbedarf in Sachen Mobilisierung, aber dort ist wenigstens klar, wer es wird".