So unverständlich ein Ehrenmord für einen Europäer sein mag, mit dem entsprechenden kulturellen und moralischen Hintergrund sei es nichts "Schlimmes", erläuterte der Psychologe Cornel Binder-Krieglstein.
"Mit seinem kulturellen Hintergrund will er die Familie retten und beschützen - und tut nichts Schlimmes", sagte der Experte. Wenn man etwa durch den Diebstahl eines Baggers ein verschüttetes Kind aus den Sandmassen retten könne, sei das Leben des Kindes ein höheres Gut als der Diebstahl. Entsprechend sei dann die Ehre der Familie ein höheres Gut als das Leben der Schwester oder sogar das eigene, da man sich der drohenden Strafe auch bewusst sei.
Jüngere Brüder verüben die Tat
Dass bei Ehrenmorden des öfteren die jüngeren Brüder als Täter auftreten, könne laut dem Psychologen verschiedene Gründe haben: Dass etwa der Familienrat den untersten in der Hierarchie dazu bestimmt, aber auch dass der Jüngste eine niedrigere Strafe zu erwarten hat. Denkbar sei aber auch, dass es als "Ehre" gesehen wird, die Bluttat zu verüben.
Laut Binder-Krieglstein stelle sich die Frage, wie Integration verlaufen kann: "Dies kann nur funktionieren, wenn die moralischen Gegebenheiten des Landes übernommen und beachtet werden und man dies auch aus Überzeugung lebt." Äußerlichkeiten seien dabei nicht so wichtig, auch in die USA ausgewanderte Österreicher hätten gerne Apfelstrudel als Erinnerung an das frühere Leben genossen. Doch wie sieht es innerlich aus? Identifiziert man sich mit dem Land oder lebt man in einer Blase mit dem Ziel, sich nicht integrieren zu wollen oder zu können, fragte der Psychologe.
Gewaltausbruch in durch Frauen "befleckten" Familien
"Der Wert der Familie misst sich an der Sittsamkeit der Frauen und an der Wehrfähigkeit der Männer." Das sagte der Soziologe Kenan Güngör im Gespräch mit der APA nach der Tötung einer 14-Jährigen, die ihr 18-jähriger Bruder begangen haben soll. Aufgabe der Männer sei es, die schwächeren Familienmitglieder zu beschützen, betonte der Experte.
Traditionell wird dem Soziologen zufolge Ehre sehr stark über die Sexualität und Keuschheit von weiblichen Familienmitglieder definiert. In Zusammenhang mit der Bluttat von Montag steht ein sogenannter Ehrenmord im Raum.
Güngör erklärte, es gebe zwei Stufen von Schande. Auf der ersten Stufe wird die Familie "befleckt". Das passiert zum Beispiel, wenn die "Frau aus der Wohnung ausbricht, sich nicht sittsam verhält oder angesprochen wird". Eine Stufe schlimmer sei, wenn die Schande nicht gerächt wird. "Die kollektive Schmach wird verdoppelt, wenn ich das nicht vergelte", erklärte er. Der Gruppendruck sei sehr groß.
Wichtig sei ihm zu betonen, dass es auch genug andere Mordfälle gebe, ohne dass Ehre im Spiel sei. Der Unterschied ist laut dem Soziologen: "Während es zum Beispiel bei Eifersuchtsfällen gesellschaftlich geächtet wird, wird ein Ehrenmord kollektiv (innerhalb der Familie, Anm.) gelobt." In einer strengen Kultur werde der Mann sogar dazu genötigt zurückzuschlagen. "Der kollektive Druck macht die Menschen konservativer, als sie eigentlich sind."
Ehrenmorde seien außerdem nur die Spitze des Eisberges. Ein strenger Ehrbegriff bringe auch psychische und physische Gewalt in der Familie hervor. Gegenwärtig sieht Güngör ein "Revival" des traditionellen Ehrbegriffs. Konservative Lebensentwürfe nehmen wieder zu. Dann steige der soziale und kollektive Druck und die darauf folgende Gewalt. Er sagte: "Wir dürfen erwarten, dass erwachsene Menschen in Österreich einen Lernprozess durchmachen. Wir müssen das in der Gesellschaft bewusster und empathischer vermitteln."
Der Ehrbegriff und dieses Grundprinzip sei weltweit der gleiche und unabhängig von Religion und Herkunft. Unterschiede sieht der Experte darin, wie dominant und wichtig der Ehrbegriff ist. "Für einige spielt das überhaupt keine Rolle. Einige gehen flexibel damit um. Dann gibt es noch sehr traditionelle Familien, die konservativ handeln", sagte er.
Im letzten Jahrhundert habe sich der Ehrbegriff in Mitteleuropa sehr verändert. "Das ist alles nicht lange her und es war ein mühsamer Kampf."