Unter Nikolaus Harnoncourt war ihr 2002 in Salzburg mit einer famos interpretierten Donna Anna in Mozarts Oper „Don Giovanni“ der internationale Durchbruch gelungen. Und spätestens 2005, als sie bei den Festspielen in Willy Deckers Inszenierung von Verdis „Traviata“ als Violetta im weißen Negligé sogar die Männer im Publikum beinahe schwindsüchtig machte, war alles perfekt. Fast zu perfekt.
Denn Anna Netrebko wurde in der Folge von einer überhitzten Marketingmaschine zum Pin-up-Girl der Opernwelt hochgejazzt: Lolita-Coverfotos für ihre Studioalben. Mit Popstar Robbie Williams auf der Wettbank von Gottschalk. Ein Werbespot für einen deutschen Mobilfunkanbieter, für den sie auf der Plaza de España in Sevilla in der Badewanne saß ...
Così fan tutte? Nein, so exzessiv mach(t)en’s nicht alle im Klassikbetrieb. Skeptiker hatten schon früh gewarnt, dass mit Netrebko wieder einmal „rohes Fleisch“ in den Medienfleischwolf geworfen wird, der schon viele junge Karrieren zerrissen hatte. Aber Skrupel vor Selbstvermarktung war der lebenslustigen, mädchenhaften Künstlerin damals fremd: Sie trug einen kecken Pony, löchrige Jeans und das Herz auf der Zunge, wenn sie zum Schrecken der toupierten Perlenkettenträgerinnen und soignierten Operngucker frei heraus sagte: „Singen ist wie ein Orgasmus.“
Ein Titel in der „Welt“ brachte es zu dieser Zeit schön auf den Punkt: „Aber singen kann sie auch.“ Allmählich ging Netrebko die Hysterie um ihre Person allerdings selbst gegen den Strich: „Ich hasse das Wort Diva, diese ganze Wichtigtuerei brauche ich nicht. Und immer nur schön sein, das nervt. Ich bin schließlich kein Model, sondern eine Sängerin.“
Netrebko erwies sich in der Folge als klug und stark genug, das nachdrücklich zu unterstreichen. Und so steht sie nach mittlerweile 25 Jahren im Mahlwerk der Klassikindustrie derzeit genau auf jenem Platz, der ihr zweifellos gebührt: Mit noch gereifterer, voluminöserer, farbenreicherer Stimme beweist die gebürtige Russin, dass sie die Königin ihres immer wieder erweiterten Fachs ist und bei Leidenschaft, Reife und Noblesse immer noch eine Krone draufzusetzen vermag.
Zur Horizonterweiterung zählt auch ihr Rollendebüt als Aida in der heutigen Premiere der Salzburger Festspiele. Die Primadonna assoluta singt in Giuseppe Verdis Oper von 1871 die äthiopische Königstochter, die nach Ägypten verschleppt wird. Das Drama soll das Glanzlicht des heurigen Festivals werden, wo es bisher erst einmal gezeigt wurde. Dafür garantiert auch Verdi-Experte Riccardo Muti am Pult der Wiener Philharmoniker, mit Spannung erwartet wird die erste Opernregie der in den USA lebenden iranischen Künstlerin Shirin Neshat. Der aserbaidschanische Tenor Yusik Eyvazov, den Netrebko 2015 heiratete, singt alternierend mit Francesco Meli den Feldherrn Radamès.
Um die restlos ausverkaufte Produktion wird ein dementsprechendes Geheimnis gemacht. Netrebko sieht die Aida „als etwas langweilige Figur, verglichen mit ihrer Konkurrentin Amneris“, wie die 45-Jährige in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ sagte, „aber ich freue mich sehr auf die sechs Aufführungen, und es wird spannend sein, die Rolle interessant zu machen“.
"Deutsche Texte sind zu schwer für mich"
Wenn Netrebko in Salzburg gastiert, wohnt sie stets im Schloss Fuschl am See. Und sie wird oft mit Tiago Eis essend und durch die Altstadt bummelnd gesehen, wie auch heuer wieder. Ihrem Sohn aus der Verbindung mit dem uruguayischen Bassbariton Erwin Schrott gilt ihre besondere Liebe. Über den Autismus des Neunjährigen spricht die Sängerin ganz offen, und sie ist äußerst glücklich darüber, dass die Spezialtherapien, die sie ihm von Ärzten an ihrem Zweitwohnsitz New York angedeihen lässt, mittlerweile große Fortschritte zeitigen.
Daheim ist die Tochter einer Nachrichtensprecherin und eines Geologen aus Krasnodar, die seit 2006 österreichische Staatsbürgerin und seit heuer Kammersängerin ist, in einer Dachgeschoßwohnung am Wiener Franziskanerplatz, übrigens als Nachbarin von André Heller. Die Geifereien, vor allem anonym im Netz, sie könne immer noch kein Deutsch, prallen angeblich an ihr ab. Der FAZ verriet sie dazu ein Geheimnis: „Französisch, Italienisch, das kann ich alles singen, aber deutsche Texte sind zu schwer für mich, ich kann sie nicht memorieren.“ Bei den Aufführungen von Wagners „Lohengrin“ vor einem Jahr in Dresden musste sie darum die Worte ihrer Elsa vom Teleprompter ablesen.
Wiedersehen auf österreichischen Bühnen
In Österreich zu hören ist Anna Netrebko bald wieder: Die Ausnahmesopranistin singt im September die Hofdame Leonora in Verdis „Trovatore“ und im November neben Startenor Piotr Beczala die Schauspielerin Adriana Lecouvreur in Francesco Cileas gleichnamigem Vierakter. Am 7. Dezember ist sie an der Mailänder Scala beim Saisonauftakt mit Umberto Giordanos „Andrea Chénier“ mit dabei. Dort erntete sie zuletzt im März 14 Minuten Applaus: In der „Traviata“ verabschiedete sie sich (neben einem allerletzten Mal in Paris) von ihrer Leibrolle der Violetta. Hausherr Alexander Pereira streute ihr einmal mehr Rosen: „Sie ist wie Maria Callas und Renata Tebaldi – die Sopranistin des Jahrhunderts.“ Und auch wir nerven zum Schluss: „Viva la Diva!“
Netrebko würde Pereira und uns vermutlich mit ihrer beliebten Kürzestbiographie Kontra geben: „Ich bin einfach Anna, eine normale, lustige, leidenschaftliche Frau, die zufällig ganz gut singen kann.“
Michael Tschida