Wir leben in bewegten Zeiten: Terroranschläge, Amokläufe, ein dubioser Militärputsch in der Türkei, Brexit und die tiefe Krise der Europäischen Union, soziale Spannungen und Ängste allerorten, Kriege und Bürgerkriege, unzählige Menschen auf der Flucht und eine Kommunikationstechnik, die uns all dies hautnah, im Live-Stream erleben lässt. Nahezu reflexartig stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist, sich in solchen Zeiten ruhigen Gewissens dem Schönen und der Kunst, der Feier des ästhetischen Augenblicks und dem Genuss eines rauschenden Festes hinzugeben. Müsste nicht die Kunst selbst angesichts dieses Weltzustandes wenn nicht verstummen, so doch ihre Stimme in einem politischen Sinne erheben, müsste sie nicht eingreifen, zumindest aufmerksam machen, über sich hinausweisen auf jene unerträglichen Zustände, müsste sie nicht die aufrüttelnde Aktion anstelle der Verehrung des Schönen setzen?


Wir leben in bewegten Zeiten. Doch das ist nichts Neues. Vor knapp einem halben Jahrhundert, am 7. Juli des Jahres 1967, sollte der Philosoph und Soziologe Theodor Adorno auf Einladung der FU Berlin über Goethe sprechen. Sommer 1967: Das war in West-Berlin der heiße Sommer der Anarchie und Revolution, erst wenige Wochen zuvor war während einer Demonstration der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen worden, was eine Welle des Protest ausgelöst hatte, der Kampf gegen eine als reaktionär verstandene Staatsmacht, gegen das gesellschaftliche Establishment, gegen Kapitalismus, Krieg und Imperialismus hatte begonnen, die berüchtigte Kommune I um Rainer Langhans und Fritz Teufel hatte – halb im Ernst und halb satirisch – in einem Flugblatt zum Anzünden von Kaufhäusern, diesen symbolischen Orten der verhassten Konsumgesellschaft, aufgerufen. Adorno, immerhin das Haupt der neomarxistischen Frankfurter Schule, wurde aufgefordert, nicht über Goethe, sondern über die politische Lage zu sprechen.

In bewegten Zeiten müsse sich die Kunst und die Rede über sie der politischen Aktualität beugen, habe man Stellung zu beziehen, Kritik zu üben, sich für die richtige Seite zu engagieren. Adorno weigerte sich. Es kam zu Tumulten und erst nach dem Einschreiten von Ordnungskräften konnte der Philosoph seinen Vortrag „Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie“ halten.
Wäre es besser gewesen, den Vortrag nicht zu halten und den Forderungen einer empörten Jugend nachzukommen? Wann müssen sich die Kunst und der Diskurs über sie den tagesaktuellen politischen Verwerfungen, Spannungen und Konflikten beugen, diese thematisieren, auch wenn dabei das Ästhetische vernachlässigt werden muss? Adorno hatte sich für die Kunst und gegen den politischen Aktionismus entschieden, den er als Angriff auf seine persönliche Integrität und die damit verbundene Sache der Kunst sah. Mitnichten bedeutete dies, die Augen vor sozialen und politischen Konflikten zu verschließen. Adorno hatte sich geweigert, den Goethe-Vortrag „umzufunktionieren“, weil er in diesem genau über diese Konflikte gesprochen hatte: Über das Verhältnis von Mythos und Rationalität, von Barbarei und Kultur, von der Gewalt und die ästhetische Kritik an ihr. Goethes „Iphigenie“ war Adorno nicht als unzeitgemäß, verstaubt und inaktuell, sondern als ein Kommentar zur Zeit erschienen, der imstande war, Dimensionen freizulegen, die der tagespolitische Aktionismus ausblenden musste. Er hatte sich geweigert, nur eine Gesinnung zu demonstrieren, er hatte sich geweigert, politisch-moralisch im Sinne einer richtigen Seite zu agieren, die sich schneller als man glaubte als eine falsche erweisen sollte. Bald brannten die ersten Kaufhäuser und kündeten vom beginnenden und todbringenden Terror der Roten Armee Fraktion. Seine ästhetische Sensibilität hatte den Philosophen davor bewahrt, zu einem geistigen Brandstifter zu werden.
Wir leben in bewegten Zeiten. Doch das ist nichts Neues. Wenige Jahre nach der Französischen Revolution, die er als Knabe emphatisch begrüßt hatte, nach dem Terror der Jakobiner und mitten in den Wirren der Napoleonischen Kriege, die Europas Geschick bestimmen sollten, richtete der 28-jährige Friedrich Hölderlin ein verzweifeltes Gebet an die Parzen, an seine Schicksalsgöttinnen:


Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.
Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht

Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heil’ge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.


Und mehr bedarfs nicht. Hölderlins ungeheurer Schluss der Ode An die Parzen, die Marcel Reich-Ranicki zu den „Wundern in deutscher Sprache“ zählte, ist nicht nur Ausdruck eines subjektiven Bekenntnisses zur Macht der Kunst. Er ist Skizze eines ästhetischen Programms, das die Kunstanstrengung und den Kunstbegriff über zwei Jahrhunderte bestimmte. In diesem Gedicht fallen die radikalste Zurücknahme und ein übersteigerter Anspruch zusammen: Das Kunstwerk, wenn es denn gelingt, genügt, um dem Leben nicht nur einen Sinn, sondern eine nahezu religiöse Aura zu verleihen, die es von allen anderen Bedingungen und Angelegenheiten des Dasein radikal entfernt. In dieser Absage an die Welt, in dieser Konzentration auf die Kunst liegt selbst eine Kritik, die nicht aktionistisch eingreift, nicht einmal Missstände benennt, sondern sich zurückzieht in eine ganz andere Sphäre, in der nur eines gilt: das gelungene Werk. Gelingen kann dieses aber nur, wenn es sich jenem Recht verdankt, das sich im Leben nicht oder noch nicht durchsetzen konnte. Es ist dies, bei Hölderlin und weit über ihn hinaus, ein Leben in Freiheit Gelingen aus Freiheit: Wäre das nicht eine wunderbare Formel für das, was Kunst im besten Sinne sein kann? Und war deshalb die Kunst nicht immer auch in doppelter Hinsicht durch ihre schiere Vorhandenheit eine Kritik und ein Einspruch gegen die Wirklichkeit? Dadurch, dass sie auf diesem Prinzip, aus Freiheit zu schaffen, beharrt, und dadurch, dass sie die Maßstäbe für das Gelingen nur ihren eigenen Ansprüchen verdanken will – keiner anderen irdischen, aber auch keiner göttlichen Macht. Was der südamerikanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa jüngst von der Literatur sagte, kann wohl für Kunst überhaupt gelten: Ihre „bloße Existenz ist schon eine Manifestation von Rebellion“. Das Pathos, das die Kunst der Moderne kennzeichnet und dem sich alle großen ästhetischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts verdanken, liegt in diesem Anspruch auf Autonomie, auf Selbstgesetzgebung, auf Unabhängigkeit von Märkten, Ideologien und Religionen. Und etwas davon spüren wir jedes Mal, wenn wir in einer gelungenen Aufführung eines Konzertes, eine Theaterstücks, einer Oper das Gefühl haben, dass es genau das ist, um dessentwillen es sich zu leben lohnt, dass es genau diese Erfahrung ist, die einen Reichtum in sich trägt, der alles andere, wie bedeutsam, erschreckend oder gewichtig es auch erscheinen mag, verblassen lässt.
Und mehr bedarfs nicht. Wirklich nicht? Ist diese Kunsterfahrung nicht auch eine ungeheure Flucht aus der Wirklichkeit, eine Betäubung, eine ästhetischer Rausch, ein imaginierter Fluss des Vergessens? Ginge es gerade in Zeiten der Krisen nicht darum, in der Kunst eine Möglichkeit zu sehen, in die Wirklichkeit einzugreifen, einen Beitrag zu leisten zur Veränderung der Gesellschaft in Hinblick auf ein Mehr an Humanität, ein Mehr an Toleranz, ein Mehr an Gerechtigkeit? So hart es auch klingen mag: Die Kunst ist das eine, die politische Moral das andere. In der Kunst zählt der Wille nicht fürs Werk, die Gesinnung nicht für den ästhetischen Anspruch. Eine politisch korrekte Haltung ist noch kein Garant für gelungene Kunst. Wenn es eine bis heute verstörende Einsicht der Moderne gibt, dann diese: Das Schöne und das Gute bilden keine Einheit. Niemand hat dies prägnanter formuliert als Friedrich Nietzsche: „An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind Eins: fügt er gar noch hinzu ‚auch das Wahre‘ so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.“ Was aber heißt das? Zeigt uns die Kunst nur einen schönen Schein, der wenigstens während Festspielzeiten die Wirklichkeit überstrahlen kann? Oder liegt das Paradoxe der Kunst darin, dass sie uns erlaubt, einen Blick auch auf unangenehme Wahrheiten zu werfen, ohne dass es uns wirklich wehtut? Und dies deshalb, weil im Moment des ästhetischen Ereignisses nichts wichtiger und verbindlicher ist als dieses selbst? Und liegt nicht darin die eigentliche Provokation der Kunst: Dass das gelungene Werk uns von der Wahrheit ebenso wie von jedem moralischen Anspruch vorerst einmal entbindet?
Und mehr bedarfs nicht. Wie bescheiden, wie unzeitgemäß! Muss dieser Satz nicht seltsam klingen in einer Welt, in der genug nie genug sein darf, in der alles immer mehr werden muss, in der alles seine Nützlichkeit und Verwertbarkeit für das Wirtschaftswachstum beweisen muss? Nein, die Konzentration und Reduktion auf das Entscheidende, auf das in höchster Intensität Zurückgenommene ist unsere Sache nicht. Es stimmt schon: Der kritische Impuls von Kunst, der die klassischen Avantgarden grundierte, hat sich verbraucht, die großen Anstöße, Parteinahmen oder Ideen zu einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft werden kaum noch von der Kunst erwartet. Im Gegenzug dazu aber ist die Kunst nun mitunter affirmativ geworden, schmiegt sich den Märkten an, ist – so die These des Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich – zur Kunst der Oligarchen und erfolgreichen Spekulanten geworden, zur „Siegerkunst“, zu einer Trophäenkunst, die sich aus dem öffentlichen Raum und seinen Museen zurückzieht und wie in feudalen Zeiten die ummauerten Anwesen der neuen Herrschenden schmückt. Für diese Kunst gilt zweifellos ein immer Mehr, ein immer Größer, ein immer Extravaganter, ein immer Teurer. Keine Frage: Solche Kunst ist nicht verwerflich und auch aus den Aufträgen von geltungssüchtigen Menschen kann Großes entstehen; aber es ist für die Kunst, ihre Kraft, ihre Verbindlichkeit nicht ganz ohne Belang, in welchem Umfeld sie entsteht, vor welchem Publikum sie aufgeführt wird, an welchen Erwartungen sie sich orientiert. Wer Kunst nur noch als Ornament, als Beiwerk, als ästhetische Überhöhung des eigenen Selbst, als Bühne seiner Eitelkeit sieht, hat sie unter ihrem Wert geschlagen, wieviel Geld er dafür auch ausgegeben haben mag.
Das immer Mehr gilt aber nicht nur für den Präsentationsbedarf der Eliten. Es gilt auch für einen demokratischen Impuls, der die Kunst öffnen wollte und sie dadurch dennoch korrumpierte. Die saloppe sozialpädagogische Geste, mit der alles zur Kunst und jeder zum Künstler erklärt wurde und wird, um nur ja niemanden auszuschließen, die ermüdende Penetranz, mit der nicht nur Alltagsgegenstände in Museen neu kontextualisiert werden, sondern der Alltag als Alltag in seiner Alltäglichkeit zur Kunst stilisiert wird, sind kein heroischer Akt der Entgrenzung, sondern ein Missverständnis; ein Missverständnis, das verkennt, dass das Faszinosum der Kunst in einem unerbittlichen Anspruch auf ein Gelingen liegt, das dem Leben selbst weder zugemutet noch abgerungen werden kann. Ähnlich mag es auch mit jenen Hoffnungen bestellt sein, die in der digitalen Welt die Grenzen zwischen Kunst, Geschäft, Spiel, Kommunikation, Werbung und Erregung fröhlich verschwimmen lassen und der Seele, der in diesem Netz ihr göttlich Recht nie und nimmer werden wird, jede Chance nehmen, andere Erfahrungen zu machen als diejenigen, die die Algorithmen der digitalen Maschinen vorschreiben. Bei all den wohlmeinenden, aber unreflektierten Versuchen, die Kunst zu demokratisieren und nahezu alles zum Ausdruck einer Kultur zu erklären, handelt es sich letztlich um einen ästhetischen Populismus, der falsche Hoffnungen weckt. Die Kunst erfordert, heute mehr denn je, das Eintauchen in eine andere Welt, eine Welt, in der es um Genauigkeit, Aufmerksamkeit, Konzentration, Hingabe, Anstrengung und Selbstvergessenheit geht, um Haltungen also, die quer stehen zu jener Mischung aus Bequemlichkeit und Egomanie, zu der wir ansonsten angehalten sind.
Und mehr bedarfs nicht. Wirklich nicht? Ist Kunst nicht auch ein Wirtschaftsfaktor, zuständig für die Umwegrentabilität ganzer Regionen, ist Kunst nicht ein Motor für den Tourismus, befriedigt Kunst nicht das Bedürfnis nach Selbstnobilitierung durch Kulturkonsum, vermittelt Kunst nicht soziale und kreative Kompetenzen, die sich als Wettbewerbsvorteil erweisen könnten? Und wird die Kunst nicht aus diesen und ähnlichen Gründen, die mit ihr im Grunde nichts zu tun haben, in den Sonntagsreden so gerne beschworen? Welchem Politiker, gar welchem Bildungspolitiker geht es denn wirklich noch um die Sache der Kunst? Die zentrale Rolle, die Kunst und die Auseinandersetzung mit ihr einst in der bürgerlich-humanistischen Bildung gespielt hatte, ist längst obsolet geworden. Die klassische Literatur, ernste Musik, die Welt der Oper, die großen Werke der Malerei, die epochalen Texte des Theaters gehören seit langem nicht mehr zum Kerncurriculum Höherer Schulen.
Mit Fug und Recht könnte man sich auch einmal die Frage stellen: Wieviel Bildung braucht die Kunst, wieviel Kunst braucht die Bildung? Das gelungene Werk, auch in seiner Einfachheit raffiniert und anspielungsreich, immer auf Vergangenes zurück und auf Zukünftiges vorausweisend, stellt hohe Ansprüche. Hören, Lesen, Sehen sind in diesem Zusammenhang nicht nur rezeptive, sondern produktive Tätigkeiten, das Verstehen und der Genuss steigern sich mit Kenntnissen, Einsichten und Erfahrungen. Ästhetische Bildung als Modell für die Freiheit und Autonomie des Menschen kann sich nur in Auseinandersetzung mit der Kunst entfalten, ästhetische Urteilskraft, die Fähigkeit, das Gelungene vom Misslungenen zu unterscheiden, die Schulung einer kritischen Haltung können sich nur in Konfrontation mit den Werken der Tradition und der Gegenwart entwickeln. Ja, Kunst braucht Bildung in einem fundamentalen Sinn, sie braucht vielfältige Kenntnisse, braucht historisches religiöses, philosophisches und literarisches Wissen, braucht Erfahrungen. Welche Schule, welcher Bildungsplan will solches heute noch bieten?
Aber wieviel Kunst braucht die Bildung? Genügt es nicht, dass junge Menschen jene Kompetenzen erwerben, die sie fit für die Arbeitswelt der Zukunft machen? Und hat sich die Beschäftigung mit Kunst nicht auch dieser Maxime zu beugen. Sollte es sich herausstellen, dass das Hören von Mozartopern das innovative Denken befördert und bei der Gründung von Start-ups Vorteile verschafft, nun, dann wird man das tun; sonst eben nicht. Wer so denkt, denkt falsch. Bildung ohne ästhetische Erziehung ist keine Bildung. Denn die Kunst, und nur sie, kann – wenn auch im Imaginären – zeigen, was es heißt, mit den Widersprüchen und Abgründen des Menschen in einer menschlichen Weise umzugehen. Kunst gehört, neben der Wissenschaft, zumindest für Friedrich Schiller zu den „edelsten Werkzeugen“ des Menschen, die es ihm erlauben, sich im „Reiche der vollkommensten Freiheit“ zu bewegen. Bildung als Menschwerdung des Menschen kann sich deshalb nur an und mit diesen beiden großen Errungenschaften entfalten.
Das Reich der Freiheit, auch und gerade der ästhetischen Freiheit, ist aber nicht ohne Fallstricke. Freiheit heißt auch, sich aus dem Bann des Kollektivs und des kollektiven Denkens zu lösen und zu einer wirklichen Individualität zu gelangen. Hier liegt ein irritierendes Problem, vor das uns die Kunst stellt. Kunst ist mit unseren, im Bildungswesen aus guten Gründen geforderten Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen nicht vereinbar. Kunst ist letztlich eine Sache des Einzelnen. Und dies nicht im Sinne eines falschen Elitenbewusstseins, auch nicht im Sinne eines überzogenen Geniekults, sondern im Sinne einer existentiellen Erfahrungsmöglichkeit. Für diese kann in einem Schulsystem wohl der Boden bereitet, sie kann aber weder verordnet, noch verlangt, noch als Kompetenz definiert, geprüft und zertifiziert werden. Es kann auch niemand dazu gezwungen werden. Ein Ein Bildungssystem, das die Chancen von Kunst ernst nähme, eine Bildungsministerin, der es darum ginge, jungen Menschen die Welt der Kunst zu erschließen, setzte deshalb weniger auf Kompetenzorientierung oder Output-Optimierung, sondern schlicht auf Lehrer, die für die Kunst, für die Literatur, für die Musik begeistern können, und die wissen und wissen dürfen: wenn sie damit auch nur eine einzige jugendliche Seele erreichen und enthusiasmieren – dann haben sie das ihrige getan. Und mehr bedarfs nicht.
Das Faszinierende und Verstörende an der Kunst besteht bis heute darin, dass sie alles sein kann, was man ihr zuschreibt und doch nie darin aufgeht. Ja, die Kunst kann ein Wettbewerbsfaktor und ein Kompetenztrainingsprogramm sein, eine soziale Aktion und ein Ornament, sie kann Kritik sein und Affirmation, politische Propaganda und apolitische Ästhetik, Unterhaltung der Massen und elitäre Abschottung. Sie kann dies alles aber nur sein, sie kann all diese widersprüchlichen, anregenden und aufregenden, langweiligen und spannenden, dummen und dreisten, wunderbaren und faszinierenden Formen annehmen, weil es dahinter dieses ungeheure Und mehr bedarfs nicht gibt. Alle diese Attitüden zehren von der Idee, dass es letztlich darauf ankommt, dass dem Menschen, diesem fehlerhaften, eitlen, grausamen und nicht besonders intelligenten Wesen, etwas nahezu Vollkommenes gelingen kann, das keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedarf und das für sich Gültigkeit, über die Jahrhunderte hinweg, beanspruchen darf. Vielleicht leben wir in den kostbaren Augenblicken, da wir solch einem Gelingen beiwohnen dürfen, vielleicht sogar dazu etwas beitragen können, nicht wie Götter; aber wir leben – endlich – einmal so, wie Menschen leben sollten. Und mehr bedarfs nicht.