Jakob M. Erwas Romanverfilmung "Die Mitte der Welt", die im Wettbewerbsprogramm des Internationalen Moskauer Filmfestivals läuft und parallel zum Filmfest München seine Weltpremiere feierte, ist am Sonntag vom Publikum in Moskau überraschend freundlich aufgenommen wurden. Tags zuvor hatten vereinzelte Journalisten den Film am Rande der Pressevorführung als "homosexuelle Propaganda" kritisiert.
Ab November im Kino
"Dieser Film könnte das Publikum schockieren", hatte Programmdirektor Kirill Raslogow vergangene Woche auf seiner Pressekonferenz gewarnt. Doch bei der Weltpremiere der deutsch-österreichischen Produktion über einen schwulen Jugendlichen, die im November 2016 in den österreichischen Kinos anlaufen wird, war davon ganz und gar keine Spur. Bei der Vorstellung am frühen Nachmittag, die auch aufgrund der Uhrzeit nicht ausverkauft war, stieß Erwas neuester Spielfilm auf sichtliches Wohlgefallen. Anstelle von Empörung gab es Applaus.
"Die Tragödie des vaterlos aufgewachsenen Buben hat mir gerade auf emotionaler Ebene sehr gut gefallen", sagte die junge Moskauerin Nika. Sie war einer jener Filmfans, die nach der Premiere unbedingt ein Autogramm von Erwa ergattern wollten. "Sie haben allen gezeigt, dass Menschen so leben sollen, wie sie fühlen", bedankte sich der 70-jährige Postbote und ehemalige Übersetzer Boris in perfektem Deutsch beim Regisseur, der sich zuvor mit einem "Stop Homophobia"-Aufkleber auf dem Roten Platz fotografieren ließ und auf seiner Facebookseite Stellung bezog: "Zeigt euer Gesicht. Steht für Toleranz und Liebe. (...) Das Gesetz verbietet jegliche positive Berichterstattung über Homosexualität. Dazu gehören auch Filme. Will das Festival hier ein Zeichen setzen?"
Ein Tabu-Thema
Tatsächlich beschäftigt sich "Die Mitte der Welt" mit Themen, die in Russland als heikel und nahezu tabuisiert gelten. Denn auf Basis des gleichnamigen Romans von Andreas Steinhöfel erzählt der 34-jährige Erwa nicht nur von neuen familiären Konstellationen, von einer alleinerziehenden Mutter oder einem lesbischen Paar. In einem zentralen Handlungsstrang ist zudem von zwei Schülern die Rede, die sich in einander verlieben, ohne dass ihr Umfeld damit ein Problem hätte. Mit dieser Gesellschaftsdarstellung reproduziert der Grazer Filmregisseur geradezu einen Albtraum rechtskonservativer Russen, die Europa häufig als "Gayropa" disqualifizieren. In einem vermeintlich homosexuellen und deshalb amoralischen Westen, so eine auch in staatlichen Medien propagierte Ansicht, hätten andere als in Russland traditionelle und christliche Werte ihre Bedeutung verloren.
Verschärfend kommt hinzu, dass Homosexualität unter Jugendlichen im offiziellen russischen Diskurs eigentlich nicht existieren darf. "Nach Ansicht von Russlands Regierenden können Kinder ausschließlich heterosexuell sein und wenn sie eine andere Orientierung haben, sind sie von bösen Erwachsenen verführt worden", erklärt gegenüber der APA Aktivistin Lena Klimowa, die mit ihrem Internetportal "Deti-404" ("Kinder-404") "nicht traditionellen" Heranwachsenden eine Öffentlichkeit bieten möchte. Klimowa kam deshalb mit dem russischen Verwaltungsstrafrecht in Konflikt: Seit 2013 steht nicht näher definierte "Propaganda unter Jugendlichen von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen" unter Strafe.
Was die Kritiker sagen
Die Rede von einschlägiger "Propaganda", freilich unter erwachsenen Journalisten, war aber auch am Rande der Pressevorführung und -konferenz zum Film am Samstag. Sie sei gegen derartige Filme, sagte die Vertreterin eines überkonfessionellen christlichen Magazins zur APA, und war mit dieser Meinung nicht alleine. "Solche Filme dürfen bei uns nicht in den Vertrieb kommen", forderte sie.
Die Wahrscheinlichkeit eines regulären russischen Kinostarts ist indes verschwindend gering. Um die erforderliche staatliche Vertriebserlaubnis zu bekommen, bedarf es eines nationalen Rechteinhabers. "Ich fürchte, dass es kaum Firmen in Russland geben wird, die diesen Film vertreiben wollen. Sie verstehen, dass sie es mit Problemen zu tun bekämen", meint Andrej Plachow zur APA. Der prominente Filmkritiker leitet die Auswahlkommission des Moskauer Festivals, das mittlerweile als seltene und zudem vom Staat geschützte Zone für künstlerische Freiheit gelten darf. Plachow hat an Erwas Film insbesondere jene zeitgenössische Stilistik gefallen, mit der hinter der Hochglanzfassade einer gut organisierten Zivilisation von ernsten Problemen erzählt wird.
Einzige Chance, Filme wie "Die Mitte der Welt" nach dem Moskauer Filmfestival legal auf russischen Leinwänden zu sehen, sind kleine internationale Festivals wie "Bok o bok" ("Seite an Seite"). Doch gerade dieses Filmfestival mit mehreren Austragungsorten, das sich auf Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen- und Transgender-Thematik spezialisiert hat, kam in vergangenen Jahren selbst zunehmend unter Druck. Nachdem das Festival 2013 wegen internationaler Geldgeber vom russischen Justizministerium zum "ausländischen Agenten" erklärt wurde und in Folge eine hohe Geldstrafe berappen musste, kämpfe seine letzte Moskauer Ausgabe im vergangenen April mit neuen Problemen: Anonyme Bombendrohungen führten dazu, dass das halbe Festivalprogramm nicht gezeigt werden konnte.