Wie lange wird es in Europa die klassische Stahlindustrie noch geben?
WOLFGANG EDER: Es wird in den nächsten 15 Jahren zu massiven Veränderungen kommen. Die einfachen Stahlprodukte wird man aus Kostengründen in Europa nicht mehr produzieren. In der Türkei, in China, Indien oder Brasilien kann man das einfach unvergleichlich günstiger machen.
Das klingt düster und nach massivem Jobabbau.
EDER: Das wird unausweichlich so sein – aber wir sprechen von einem Zeithorizont von 15 Jahren. Europa wird meiner Meinung nach rund 60 Prozent seiner Stahlerzeugung verlieren. Es werden nur die Effizientesten überleben. Und nur jene, die sich auf die qualitativ anspruchsvollsten Stahlprodukte konzentriert haben. Da waren wir glücklicherweise die Ersten, die damit begonnen haben. Donawitz ist heute das beste Stahlwerk Europas.
Was passiert, wenn die Hochöfen ihren natürlichen Tod sterben?
EDER: Da möchte ich den Diskussionen im Konzern nicht vorgreifen. Ich kann nur so viel sagen, dass ich persönlich davon ausgehe, dass es uns gelingen sollte, die Stahlerzeugung in Österreich zu halten.
Sie bauen ein großes Werk in Texas. Wie viel mehr würde das kosten, wenn Sie es in Österreich bauen und betreiben würden?
EDER: Ich glaube nicht, dass wir überhaupt eine Bau- und Betriebsbewilligung in überschaubarer Zeit bekommen würden. Außerdem hätten wir jährlich um 200 Millionen Euro höhere Betriebskosten – Strompreis, Gaspreis, Logistikkosten.
Warum glauben Sie, keine Bewilligung zu bekommen?
EDER: Europa war bis in die 1980er-Jahre stolz auf seine Industrie. Dann hat eine gesellschaftspolitische Veränderung eingesetzt. Plötzlich war Industrie umweltbelastend und unmenschlich. Wir brauchen die moderne Dienstleistungsgesellschaft, hieß es. Die Politik orientierte sich an den Entwicklungen der gesellschaftlichen Mehrheit – dadurch ist die starke Rückendeckung der Industrie diffuser und die Politik unzuverlässiger geworden.
Aber es war doch die Industrie, die ihrerseits diesen Pakt aufgegeben hat. Unter dem Slogan „Auslagerung in Billiglohnländer“ kam man drauf, dass es die Fertigung im Rahmen der Globalisierung woanders billiger gibt.
EDER: In den 80er-Jahren ist die Industrie zur Auffassung gekommen, wir werden nicht mehr alles in Europa machen können. Einfache Dinge wurden ausgelagert. Rückblickend war das ein Segen. Hätten wir das nicht gemacht, hätten wir heute ein viel größeres Kostenproblem. Ich glaube nicht, dass es ein rein kapitalistischer Antrieb war. Es waren die ersten Signale, die gezeigt haben, in Europa werden wir uns schwertun, alle Teile eines Autos zu erzeugen.
Wenn man Ihnen so zuhört, könnte man meinen, die europäische Industriepolitik ist gescheitert.
EDER: Ja. Allerdings gibt es Länder wie England, die lernfähig sind. Dort wird zurzeit eine noch nie dagewesene Autoindustrie aufgebaut. Außerdem gibt es einen Forschungsfonds für die klassische Industrie, der so groß ist wie noch nie zuvor. England ist am Weg in die Reindustrialisierung – im Gegensatz zum Rest von Europa.
Würde nicht jeder Politiker, egal ob rechts oder links, alles tun, um von Ihnen 1000 Arbeitsplätze zu bekommen?
EDER: Das ist leider nicht so. Wir stellen fest, dass es in Europa keine Werteskala gibt. Es ist in Österreich nicht ausdiskutiert, was uns wichtiger ist: Die Umwelt oder die Beschäftigung der Menschen.
Sie trauen sich zu sagen, dass Ihnen die Beschäftigung der Menschen wichtiger ist als die Umwelt?
EDER: Wir tun alles, um die Umwelt zu schützen. Nur, wenn man von uns noch mehr verlangt – etwa Dinge, die technisch nicht gehen – und uns dann massiv pönalisiert, dann bringe ich Verständnislosigkeit auf. Wenn man uns zwingt, aus Europa wegzugehen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die woanders entstehenden Kapazitäten nicht so umweltfreundlich produzieren wie jetzt.
Ist Ihre Form der Industrie noch ein großer Beschäftigungsbringer? In Texas investieren Sie 550 Millionen in ein Werk und schaffen damit gerade einmal 150 Arbeitsplätze.
EDER: Das ist ein Spezifikum dieses hochautomatisierten Produktionsvorganges. Man muss hier vorsichtig sein. Ich mache mir dennoch Sorgen, was die Beschäftigung betrifft. Aber nur vor einem Hintergrund: Wenn ich mir die Qualifikation der Menschen ansehe, hat sich das massiv verschoben. Wir brauchen kaum mehr einfache Qualifikationen, der klassische Hilfsarbeiter wird bei uns an ein Ende kommen. Jetzt brauchen wir Hochqualifizierte.
Eine Konstante ist Ihr Ärger rund um das heimische Steuersystem. Sie sagen, Sie zahlen zu viel – während andere oft den Drang der Konzerne zur Steuervermeidung geißeln.
EDER: Wir zahlen im Schnitt 20 Prozent Körperschaftssteuer und insgesamt nur in Österreich jährlich 500 Millionen Euro.
Ist der Staat dann zu teuer? Der kommt mit den eingenommenen Steuern anscheinend nicht aus.
EDER: Natürlich. Wir haben steuerlich die Grenzen erreicht. Mehr ist den Menschen und den Unternehmen nicht zumutbar. Die Politik muss eines berücksichtigen: Für sie gibt es die Grenzen dieses Landes. Für die Wirtschaft gibt es den ganzen Globus. Für mich ist es erschreckend zu sehen, wie die Staatsschulden steigen, wie die Arbeitslosigkeit steigt.
Das sind Probleme, aber wo sind die Lösungen?
EDER: Warum gibt es keine Valorisierung des Pensionsantrittsalters? Warum gibt es keine massiven Sparbemühungen in der staatlichen Bürokratie? Warum gehen wir nicht mit einem eisernen Rechen über Dinge wie Sozialleistungen und Subventionen?
Haben Sie eine Idee, wie man den Staat künftig finanzieren soll? Viele Menschen haben den Eindruck, wir fahren rechnerisch gegen die Wand.
EDER: Ein großes Problem ist, dass sich der Staat um Sachen kümmert, die man in einer modernen Gesellschaft dem Einzelnen überlassen könnte. Es gibt meiner Meinung nach keine einzige politische Gruppierung, die versucht, aus diesem Umfeld auszubrechen. Wir brauchen aber eine neue Aufbruchsstimmung. Warum wir keine wirklichen Reformen schaffen? Die Not ist noch nicht groß genug.
Kann das Abkommen TTIP aus der drohenden Not befreien?
EDER: Beide Extrempositionen sind in dieser Sache überzogen. Es gibt die Gefahr des Chlorhuhns nicht, gleichzeitig ist TTIP sicher nicht die Lösung aller industriewirtschaftlichen Probleme. Wir werden wohl einige Zehntel-Prozentpunkte an Wirtschaftswachstum ableiten können.
Wie oft haben Sie bereits internationale Schiedsgerichte angerufen?
EDER: Der letzte Fall war 1991. Ein Relikt aus der alten Voestalpine.
Abschließend noch zur causa prima: Was ist wichtig, um Asylwerber vernünftig einzugliedern? Was kann die Industrie leisten?
EDER: Es gibt immer mehr Gruppen, die darauf drängen, Asylwerber viel schneller als bisher in den Arbeitsprozess zu bringen. Wir können es uns auch einfach nicht leisten, drei oder vier Jahre lang zu warten. Wir müssen diese Prozesse massiv beschleunigen. Eine provisorische Arbeitsbewilligung könnte befristet erteilt werden. Wir sind für alles offen.
INTERVIEW: ERNST SITTINGER, MARKUS ZOTTLER