Die großen Probleme der Menschheit können nicht als Einzelprobleme verstanden werden: Das ist der Kern Ihrer These. Wird das an Themen wie Klimawandel, Migration oder Rechtspopulismus deutlich?
FRITJOF CAPRA: Die systemische Natur unserer globalen Probleme, ihre grundlegende Vernetzung und Verbundenheit, ist ein Hauptthema meiner Werke. Die beiden dringendsten Probleme sind heute der Klimawandel und die wirtschaftliche Ungleichheit. Beide sind systemisch und komplex mit den Problemen der Migration und dem Ansteigen des Rechtspopulismus verknüpft.
Inwiefern?
Die Migrationen der letzten Jahre wurden oft von wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten und Wirtschaftsnot ausgelöst, aber auch von Klimakatastrophen. So zum Beispiel hatte der tragische Bürgerkrieg in Syrien seinen Ursprung in einer historischen Dürre im Jahr 2006, die 1,5 Millionen Landbewohner dazu zwang, in die Städte zu auszuwandern wo sie schon bestehende politische Spannungen noch verschärften.
Der Vormarsch der Rechtspopulisten ist eine Reaktion darauf?
Das Ansteigen eines fremdenfeindlichen Rechtspopulismus in vielen Ländern ist als irregeleitete Reaktion zu diesen systemischen Problemen zu verstehen. In letzter Zeit gab es drei schockierende Wahlen: das Brexit-Referendum in Großbritannien sowie die amerikanischen und brasilianischen Präsidentschaftswahlen. Die Mehrheit der Stimmen kam stets zum Großteil von frustrierten Wählern. Sie gaben ihre Stimmen gegen die politischen und finanziellen Eliten ab, und für Alternativen, die ihnen als Rettung versprochen wurden. Die Tragik ist, dass deren Versprechungen falsch sind, weil sie Einzelprobleme ansprechen ohne deren systemische Vernetzung zu sehen.
Die Spannungen zwischen China und den USA nehmen weiter zu. Sehen Sie eine „Wendezeit“, was die Vorherrschaft der USA betrifft?
Die Vorherrschaft der USA scheint tatsächlich schwächer zu werden. Doch in unserer globalen Krise geht es nicht um Herrschaft, oder Vorherrschaft, sondern um eine Zusammenarbeit zum Wohl – und sogar zum Überleben – der Menschheit. Eine solche intensive Zusammenarbeit muss auf allen Ebenen stattfinden: in der Politik, der Geschäftswelt und der Zivilgesellschaft. Der „Erdhaushalt” ist das gemeinsame Haus der Menschheit, und eine nachhaltige Welt für unsere Kinder und für künftige Generationen zu schaffen, ist unsere gemeinsame Verpflichtung.
Unsere Welt basiert auf dem Glauben unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums – steht und fällt unser ökonomisches Wohlergehen damit?
Die Illusion eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums ist die Krise der Wahrnehmung. Diese liegt den meisten unserer globalen Probleme zugrunde. Unsere große Aufgabe ist es, von einem Wirtschaftssystem, das auf dem Begriff des unbegrenzten Wachstums beruht, auf eines überzugehen, das ökologisch nachhaltig und sozial gerecht ist.
Ist also Nullwachstum die richtige Antwort?
Nein, denn Wachstum ist ein Hauptmerkmal alles Lebens. Doch Wachstum in der Natur ist weder linear noch unbegrenzt. Während Teile eines Organismus oder eines Ökosystems wachsen, gehen andere zurück und setzen dabei Komponenten frei, die ihrerseits zu Ressourcen für neues Wachstum werden. Unsere Aufgabe, also, ist es, von quantitativem zu qualitativem, ausgewogenem und vielfältigem Wachstum überzugehen.
Der Mensch ist dabei, seine Lebensgrundlage, die Umwelt, auszubeuten. Das wissen wir schon seit dem „Club of Rome“-Bericht in den 1970er-Jahren. Trotzdem ändert sich nichts?
Die Wende zu nachhaltigen Energiesystemen, Wirtschaftsmodellen und Technologien schreitet zu langsam fort. Doch, dass sich seit den Siebzigerjahren nichts geändert hat, kann man nicht sagen. Es hat acht Jahre gebraucht, um das Kyoto-Protokoll zu ratifizieren. Beim Pariser Klimaabkommen waren es nur mehr elf Monate. Und obwohl Präsident Trump inzwischen davon aussteigen will, bekennen sich die USA als Ganzes und auch zahlreiche amerikanische Firmen nach wie vor dazu.
Sie sehen also maßgebliche Fortschritte?
Die guten Energie-Nachrichen häufen sich jetzt so schnell, dass man Mühe hat, am Laufenden zu bleiben. China ist jetzt das führende Land in Solarenergie. In Deutschland haben die erneuerbaren Energien die Kohle als führende Energiequelle verdrängt. Chile steigt aus der Kohle aus. Schottland wird nächstes Jahr ausschließlich von erneuerbarer Energie betrieben werden. Dänemark erzeugt schon jetzt einen Überschuss an Elektrizität auf seinen Windparks. Gewaltige Solar- und Windparks werden in der Wüste Sahara errichtet werden. Saubere Energiequellen werden in ein bis zwei Jahren billiger als fossile Brennstoffe sein.
Wir haben vor zehn Jahren die große Weltwirtschaftskrise erlebt – haben wir daraus gelernt?
Leider haben unsere führenden Politiker und Ökonomen nichts daraus gelernt. Und die nächste Krise — nicht wirtschaftlich, sondern politisch — ist bereits da. Der Crash von 2009 zeigte die Hohlheit der neoliberalen Behauptung, dass ungeregelte Märkte Güter besser produzieren und verteilen als geregelte. Doch die alte Ordnung behauptete sich nach dem Crash aufs Neue. In den USA entkam die Finanz-Elite weitgehend unversehrt. In Europa bestand Deutschland darauf, dass die schwer kämpfenden Volkswirtschaften ihren Bürgern Sparmaßnahmen auferlegen sollten, um das Vertrauen der Finanzmärkte wieder zu gewinnen — ein perverses Rezept für wirtschaftliche Besserung.
Die Linke konnten daraus keinen Profit ziehen.
Die traditionelle europäische Linke brachte Schande auf sich indem sie jene neoliberale Formel befürwortete, die die Wirtschaft zu Fall gebracht hatte. Und so geschah es, dass sich der Rechtspopulismus in einem Land nach dem anderen als einzige Alternative zur sogenannten „Davos Partei” anbot.
Sie beschreiben in Ihren Büchern Verbindungen zwischen Ökologie und Feminismus – befinden wir uns in einem ökofeministischen Zeitalter oder ist das Patriarchat weiter im Vormarsch?
Das Patriarchat ist immer noch machtvoll, doch sicher nicht weiter im Vormarsch. Die weltweite #MeToo Bewegung und die Projekte der vielen neugewählten Frauen in der Politik, zum Beispiel der „Green New Deal” der jungen amerikanischen Abgeordneten Alexandria Ocasio Cortez zeigen, dass der Ökofeminismus, wenn auch oft unter anderen Namen, weiterhin lebt und gedeiht.
Sie werden kritisiert, dass es Ihnen als Physiker nicht um eine wertefreie Sicht der Welt gehe, sondern um Ihre eigene Weltanschauung.
Also, zum Ersten ist Wissenschaft nie wertfrei. Was geforscht wird, und vor allem welche Forschungsprojekte gefördert werden, hängt immer von den Werten der Gesellschaft ab. Zum Zweiten spreche ich, wenn ich für eine nachhaltige, gerechte und friedvolle Welt eintrete nicht als Physiker, sondern als Systemdenker, Erzieher und Aktivist.
Welche Beziehung haben Sie noch zu Österreich?
Zu Wien, meinem Studienort, habe ich leider keine besondere Beziehung mehr. In Innsbruck, wo ich meine Jugendjahre verbracht habe, hab ich immer noch eine Wohnung und bin auch fast jedes Jahr dort. Kärnten, und das Lavanttal im Besonderen, ist die Heimat meiner Kindheit, und der Großteil meiner Familie in Österreich lebt nach wie vor in Kärnten. Den Klang des Kärntnerischen und die Melodien der Kärntnerlieder habe ich nach all diesen Jahren immer noch im Ohr.