Was im "Westen" als Rückschlag empfunden wird, ist aber eine Normalisierung: Das Gewicht des "Westens" dürfte 2030 wieder so groß sein wie 1820 - vor der industriellen Revolution, sagte IV-Chefökonom Christian Helmenstein im Gespräch mit der APA.
1820 machten China und Indien zusammen die Hälfte der Weltwirtschaft aus. Dann kam der Umstieg auf industrielle Produktion, das darauf folgende Jahrhundert - bis zum 1. Weltkrieg - war "die Phase der ökonomischen Dominanz Europas", so Helmenstein. Im Anschluss an und auch als Folge von den beiden Weltkriegen kam es zum Aufstieg der USA zur ökonomischen Supermacht, nicht zuletzt, weil es im Land kaum Kriegsschäden gab. Europa konnte bis heute diesen Vorsprung der USA nicht mehr aufholen.
In den 1970er Jahren, zur Zeit der Ölkrisen, die Helmenstein als Wendepunkt für die weitere Entwicklung sieht, hatten Indien und China gemeinsam "gerade einmal fünf Prozent" Anteil an der Weltwirtschaft. "Das zeigt, dass das Ausscheren aus der internationalen Arbeitsteilung dazu geführt hat, dass diese Länder nicht nur relativ, sondern auch absolut verarmt sind". Ähnlich sei es Kuba gegangen, das in den 1950er Jahren mehr Kaufkraft hatte als 1990.
"Erst die Reintegration in die weltweite Arbeitsteilung hat den Take-off von Indien und China ermöglicht", so Helmenstein. Wenn man die Entwicklung fortschreibe, sei davon auszugehen, dass diese beiden Länder etwa 2030 wieder den gleichen Anteil am weltweiten Einkommen haben werden wie 1820, sagt Helmenstein: "2030 werden wir in einer multipolaren Welt angekommen sein." Wobei in den nächsten Jahren Indien stärker wachsen dürfte als China, weil in zweiterem Land angesichts der Alterung der Bevölkerung die Wachstumsmöglichkeiten zurückgehen. Schon zu Beginn des nächsten Jahrzehnts dürfte Chinas Potenzialwachstum nur mehr bei fünf Prozent liegen - eine entsprechende Verlangsamung des Wirtschaftswachstums sollte daher niemanden beunruhigen.
Helmenstein sieht im Aufschwung asiatischer Länder keinen Grund zu Pessimismus, im Gegenteil. Auch 1820 sei Europa nicht perspektivenlos gewesen: "Es ist sehr zu begrüßen, dass diese beiden Länder endlich wieder an den Status anknüpfen können, den sie schon 200 Jahre früher hatten, denn das erweitert das globale Technologieportfolio". Anders gesagt: Österreichs Exportwirtschaft mit hochtechnologischen und daher teureren Produkten eröffnen sich dadurch neue Chancen. Das werde global und in Österreich zu mehr Wohlstand führen. Gerade die viel gelobten Hidden Champions, die in Nischen den Weltmarkt dominieren, werden Gewinner sein.
Helmenstein verweist auf verschiedene Entwicklungen, die den Rückfall der USA illustrieren. Zwei soziale Indikatoren stechen hervor: Es sinkt nicht nur die Lebenserwartung, es werden auch die Menschen im Schnitt wieder kleiner. Gerade das Größenwachstum der Menschen war aber über Jahrhunderte ein Näherungswert für steigenden Wohlstand, die Umkehr in den USA gibt dem Ökonomen sehr zu denken. Die sinkende Lebenserwartung wiederum habe mit mangelnder Teilhabe am Wohlstand zu tun. "Offenbar haben weite Teile der Bevölkerung keinen Zugang zur Mindestgesundheitsversorgung. Ich halte es für unbedingt notwendig, dass die USA die soziale Absicherung der Bevölkerung verbessern, sonst können sie das Potenzial, das sie haben, nicht erschließen", sagt Helmenstein.
Schlecht stehen die USA auch gemessen an der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Hochtechnologieexporte da. Ihr Anteil an den weltweiten Ausfuhren dieser Güter hat sich von fast 18 Prozent Ende der 1990er Jahre auf nunmehr rund 9 Prozent halbiert. Japans Exporte brachen im gleichen Zeitraum von 12 auf 4 Prozent ein, während sich Europa bei einem Weltmarktanteil von etwa 13 Prozent halten konnte. Im Gegenzug zeigt sich der kometenhafte Aufstieg Chinas, von 2 auf 17 Prozent innerhalb von 20 Jahren. In diesen Zahlen spiegle sich aber auch wider, dass zwar in den USA vieles entwickelt wird - hergestellt werde es aber dann in anderen Ländern.
Auch an der Investitionstätigkeit kann man den Bedeutungsverlust der westlichen Welt festmachen. Vor 40 Jahren machten die Investitionen in den USA noch 5 Prozent der Weltwirtschaftsleistung (Welt-BIP) aus, in Deutschland waren es 2 Prozent. Jetzt kommen die USA auf 3 Prozent, Deutschland überhaupt nur mehr auf 0,6 Prozent. In Großbritannien sank der Wert von 0,73 auf 0,4 Prozent. Auch wenn sich die USA besser halten als europäische Länder, dies weise auf einen anhaltenden Bedeutungsverlust in der Zukunft hin, sagt Helmenstein.
Bei den Warenexporten ist der Anteil der USA seit den 1970er Jahren von 12,2 Prozent auf 9,4 Prozent, der Anteil Europas von 51 auf 37 Prozent gefallen. "Wohlstand entsteht woanders", ist der Schluss Helmensteins. Die Frage sei insbesondere, wer sich künftig die technologisch besten und damit teuersten Produkte leisten und damit den Konsum auf dem höchsten Niveau halten könne. Wer sich die beste Technologie nicht als erster leisten könne, werde auch an Wohlstand einbüßen.
Natürlich ist aber nicht alles schlecht in den USA. Bei der Produktivität pro Arbeitsstunde etwa liegen sie unverändert an der Spitze, Europa fiel zuletzt zurück. Diese durchschnittliche Produktivität komme aber vor allem daher, dass im wissensintensiven Dienstleistungssektor teilweise extrem hohe Einkommen erzielt werden, die niedrige Einkommen in anderen Sektoren überdecken. Auch der Gesundheitssektor sei sehr teuer, was statistisch gesehen hohe Einkommen und damit eine hohe Produktivität ergebe. "Es ist ein Durchschnittseffekt, die großen Unterschiede bleiben."
Entspannt äußert sich Helmenstein in Bezug auf das weltweite Wirtschaftswachstum. Es soll in den kommenden Jahren zwischen 3,5 und 4 Prozent liegen. Damit wäre die Konjunktur wieder im langfristigen Normalbereich angekommen, sagt Helmenstein. Die Menschen hätten ein globales jährliches Wachstum von fünf Prozent im Kopf - das habe es aber nur in einer kurzen Phase Mitte der 2000er Jahre gegeben und entspreche "in keiner Weise" dem langfristigen Wachstumspotenzial der Welt. Damals sei China wirtschaftlich schon bedeutend gewesen, dessen Wachstum traf sich mit einer Immobilienblase in den USA und Europa. Die Turbozeit habe unweigerlich zu Verwerfungen geführt, zu Ölpreisen über 150 Dollar je Barrel und anderen extremen Rohstoffpreisen und letztlich in die große Finanzkrise von 2008 gemündet.
Langfristig, so Helmenstein, müsse man das Wachstum der Weltbevölkerung stoppen - dann beschränkte sich auch das Wirtschaftswachstum auf den technischen Fortschritt. "Solange uns die Kreativ- und Innovationskraft nicht ausgeht, können wir so auch auf einem Planeten mit begrenzten natürlichen Ressourcen unbegrenzt wachsen."