Bereits in 16 EU-Ländern liegt die Inflationsrate im zweistelligen Prozentbereich, in Österreich hat sie mit 9,3 Prozent den höchsten Wert seit Februar 1975 erreicht. In der Schweiz, in der Sie lehren, liegt die Inflation bei 3,4 Prozent. Es ist bereits vom Schweizer Inflationswunder die Rede. Wie ist das zu erklären?
CHRISTIAN KEUSCHNIGG: Die Schweiz hat eine eigene Währung und eine eigenständige Geldpolitik. In Österreich wird die Inflation vorwiegend von der EZB in Frankfurt verantwortet, das kann die heimische Politik nicht wettmachen. Die Teuerungsraten sind allerdings auch in der Eurozone unterschiedlich. Dort, wo der Wettbewerb gut funktioniert, die Produktivitätssteigerungen groß sind, und die Lohnabschlüsse nicht überschießen, ist die Inflation tendenziell niedriger.

Könnte sich Österreich etwas abschauen?
Die Möglichkeiten sind begrenzt. Entscheidend ist, dass die Lohnpreis-Spirale nicht so heiß läuft, wie in anderen Ländern. Andere Inflationsfaktoren können wir schlicht nicht beeinflussen, zumindest kurzfristig nicht. Vielleicht hilft die Dämpfung der kalten Progression, dass mehr netto vom brutto übrig bleibt, damit Lohnabschlüsse einigermaßen moderat bleiben.

Welche Rolle spielen dabei Importzölle auf Lebensmittel und Agrarprodukte in der Schweiz?
Sie machen Lebensmittel teurer, und mindern unserer Kaufkraft, je nachdem, wie viel vom Einkommen wir dafür ausgeben müssen. Aber man muss relative Preisänderungen von Inflation unterscheiden. Manche Güter werden teurer, andere billiger. Inflation ist, wenn alle Güter gleichzeitig teurer werden. Das ist jetzt das Hauptproblem.

Gleichzeitig ist der Schweizer Franken zum Euro so stark wie seit 2015 nicht mehr, zuletzt gab es 95 Rappen für einen 1 Euro. In früheren Jahren hat die Schweizer Nationalbank milliardenschwer interveniert, um gegen einen zu starken Franken anzukämpfen. Warum ist das diesmal anders?
Ja, das ist auch in der Wirtschaft nicht wirklich ein Thema. Mit dem starken Franken und dem schwachen Euro werden natürlich die Importe stark verbilligt, was die Sache erträglich macht. Die internationale Wirtschaft in der Schweiz ist sehr innovativ und produktiv, die hält das aus.

Die Schweiz importiert durch den starken Franken also auch weniger Inflation aus dem Euroraum?
Richtig, aber man muss Ursache und Wirkung unterscheiden. Die Schweiz und die Eurozone dürften sich in der Stabilitätskultur stark unterscheiden. Wenn im Euroraum die Inflation viel höher als in der Schweiz ist, dann muss der Franken zwangsläufig aufwerten. Die Importe aus dem Euroraum werden mit der Frankenaufwertung billiger. Wenn die Preise in Deutschland und Österreich um zehn Prozent steigen, aber in der Schweiz nur um drei Prozent, dann reduziert die Frankenaufwertung den Anstieg der Importpreise auf das schweizerische Niveau. So wird trotz unterschiedlicher Inflation Wettbewerbsneutralität zwischen heimischen Gütern und Importen hergestellt.

Immer häufiger werden die Russland-Sanktionen – zumindest auf parteipolitischer Ebene – als ein zentraler Grund für die hohe Inflation in Österreich und der EU genannt. Die Schweiz hat sich den Sanktionen aber ebenfalls angeschlossen. Wie wirken die Sanktionen auf die Inflation?
Preissteigernd wirken ja nicht die Sanktionen für sich, sondern die russische Antwort darauf, nämlich die Energielieferungen zu verknappen. Das treibt die Energiepreise in die Höhe. Die steigenden Nahrungsmittelpreise aufgrund des Kriegs sind auch nicht hilfreich. Dazu kommt der schwächelnde Euro, der die Importe aus dem Nicht-Euro-Raum verteuert.

Wirken die Sanktionen aus ökonomischer Sicht?
Ich glaube schon, aber es geht vermutlich nicht so schnell. Für Russland ist eine Rezession zu erwarten, die bei uns an Covid-Schock und Eurokrise erinnert und darüber hinausgeht. Ein autokratisches Regime kann sich isolieren und sich durch Propaganda und Repression schützen. Das schwächt die Wirkungen der Sanktionen auf das Regime, während Bevölkerung und Wirtschaft stark betroffen sind.

In Österreich läuft die Debatte nach immer mehr Ausgleichs- und Anti-Teuerungsmaßnahmen auf Hochtouren. Wie beobachten Sie das aus der Schweiz?
Mir persönlich geht das eher zu weit. Man kann die Bevölkerung nicht vor jeder Krise schützen. Man sollte selektiver vorgehen und sich auf die niedrigen Einkommen konzentrieren. Hier geht es darum, die Ergänzungsleistungen und Transfers vor der Inflation zu schützen, damit die reale Kaufkraft erhalten bleibt.

Sind Strompreisdeckel und Mehrwertsteuersenkungen aus Ihrer Sicht sinnvolle Maßnahmen?
Sie sind unscharf in den Verteilungswirkungen und daher teuer, weil auch jene profitieren, die das selbst tragen könnten. Sie verwischen die Preissignale, die für Sparanreize notwendig sind.

Zu den immer weiter steigenden Strompreisen trägt in der EU auch das sogenannte Merit-Order-System bei, dabei bestimmt, vereinfacht gesagt, immer das letzte und damit teuerste Kraftwerk – derzeit in der Regel Gaskraftwerke – den Gesamtpreis. Damit gehen für Haushalte Preisvorteile aus Ökoenergie wie Wasserkraft verloren. Die Schweiz verfolgt ein anderes Modell. Wie wirkt sich das aus?
Die Schweiz hat genau die gleichen Probleme, die Energiepreise steigen auch hier sehr stark an. Manche befürchten sogar, dass es im Winter zu Stromabschaltungen kommt. Deshalb will der Bund zwei neue Gaskraftwerke zum Einsatz bringen. Wenn der Strompreis hoch ist, dann wird die alternative Energieerzeugung rentabler. Das sollte eigentlich die Energiewende beschleunigen. Allerdings braucht das viel Zeit. Ganz kurzfristig hilft nichts, wir müssen Energie sparen, um mit der Angebotsverknappung fertig zu werden. Der hohe Preis muss wehtun, damit sich was bewegt.

In Teilen Europas wird über sogenannte Übergewinne debattiert. Die Forderung wird laut, dass Profite von Krisengewinnern aus der Energiewirtschaft staatlich abgeschöpft werden. Zu Recht?
Ich finde nicht, dass dies eine gute Idee ist. Das Steuersystem muss in guten und schlechten Zeiten gleichermaßen gelten und eine verlässliche Planungsgrundlage bieten. Wenn es preistreibende Monopolstellungen gibt, dann ist die Wettbewerbspolitik gefragt, nicht die Steuerpolitik. Wenn die Konzerne große Gewinne machen, werden sie kräftig Steuern zahlen, das reicht. Was an Gewinnen übrig bleibt, ist zudem auch für Investitionen in alternative Energien nötig. Wenn wir jetzt Übergewinne speziell besteuern, müsste der Steuerzahler in der Krise auch die Verluste übernehmen. Das wäre gar nicht gut.

Befürchten Sie eine Rezession?
Vor einer Rezession ist man nie geschützt. Risiko zu übernehmen ist in der Wirtschaft normal, daher muss es auch Gewinne geben, damit sich Risikobereitschaft lohnt, und damit man in schlechten Zeiten Verluste wegstecken kann. Krisen wird es immer geben. Wir sollten vielmehr darüber nachdenken, wie wir die Krisenrobustheit der Wirtschaft festigen.

Wie?
Zum Beispiel, in dem wir die Finanzierung mit Eigenkapital zumindest nicht behindern. Nur wenn genug Eigenkapital, sprich Risikokapital, da ist, können die Löhne, die Kredite und letztlich unsere Ersparnisse sicher sein. Das Eigenkapital in der Wirtschaft muss das Risiko tragen, das andere nicht tragen wollen oder können.

Trotz dieser bisweilen auch schaurigen Kulisse – woraus können wir auch Zuversicht ableiten?
In jeder Krise, so schmerzhaft sie sein mag, liegt auch was Gutes. Churchill sagte in dramatischen Stunden, "verschwende niemals eine Krise". Die Covid-Krise hat der Digitalisierung einen richtigen Schub gegeben, davon werden wir trotz des vielen Leids auch lange profitieren. Die Energiekrise könnte der Energiewende einen richtigen Schub geben, den wir brauchen, um das Klima zu retten.