Drei Kanzler in drei Monaten, ein neuer Mann im Finanzministerium, viel politische Instabilität während der Pandemie: Welche Folgen hat das auf den Wirtschaftsstandort?
HEIMO SCHEUCH: Ich möchte ein Plädoyer für mehr Nachhaltigkeit in der Politik halten. Der Staat fordert von seinen Bürgern mehr Nachhaltigkeit. Das finde ich gut. Was ich verwerflich finde: Dass sich die österreichische Regierung nicht an die Nachhaltigkeit hält.
Wie meinen Sie das?
Wir wechseln die Menschen aus, als gäbe es kein Morgen. Die Unterschrift unter ein Dokument zählt nicht mehr. Werte werden mit Füßen getreten. Der Kapitän geht beim geringsten Sturm am Atlantik von Bord. Die Verantwortung für kein Handeln wird ihm genommen. Was ist das für ein Zustand?
Wie beschreiben Sie ihn?
Das hat mit nachhaltigem Agieren und verantwortungsvollem Führen nichts zu tun. Jedes Unternehmen, das so agiert, wäre schon lange insolvent.
Haben Kurz und Blümel nicht Verantwortung für Fehler mit ihrem Abgang übernommen?
Das stimmt nicht. Keiner von denen, die das Boot verlassen haben, hat Verantwortung übernommen. Kurz hat sich als Opfer dargestellt. Dass wir heute in dem Zustand sind und einen Lockdown über uns ergehen lassen müssen, dafür trägt jemand Verantwortung. Es sind in zwei Jahren keine Schritte gesetzt worden, das Gesundheitswesen massiv zu verändern.
Man hätte in den Spitälern neue Ressourcen schaffen müssen?
Natürlich. Wir verlieren durch diese Versäumnisse Milliarden und haben es nicht geschafft, Millionen in das Gesundheitswesen zu investieren. Man ist nicht einmal in der Lage gewesen, diese Leute, die mit extrem viel Einsatz arbeiten, mit einem Bonus zu entlohnen – eine Schande.
Ihre vordringlichste Erwartung an Kanzler Nehammer?
Es geht nicht um eine Person. Ein ganzes System hat versagt. Wir müssen uns endlich die Frage stellen, was tun wir, um dem Einhalt zu gebieten. Aber da geschieht nichts, wir sehen ein Fortsetzen des Alten.
Was müsste geschehen?
Wir stellen ein Land in eine Krise wegen eines Themas? Impfen oder nicht impfen? Das darf nicht sein. Es gibt Hunderte Möglichkeiten entgegenzusteuern: Wenn man ins Gesundheitssystem investiert hätte, rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hätte, eine richtige Informationspolitik gemacht hätte, würden wir heute nicht da stehen, wo wir jetzt stehen.
Ein Versagen der Regierung?
Ein brutales Versagen. Man muss in der Krise klar kommunizieren. Und nicht einerseits drohen und andererseits ausgrenzen, um dann wieder zu sagen, „jetzt ist alles vorbei, jetzt könnt’s wieder feiern“. Eine reife Gesellschaft muss sich fragen, wieso Tausende da draußen unzufrieden sind, noch viel mehr zu Hause unzufrieden sind und noch einmal mehr psychische Schäden davontragen.
Welche Länder lösen es besser?
Wir leben hier und sollten einen hohen Anspruch haben. Die Qualität der Diskussionen ist abscheulich. Und ja, das schadet dem Standort. Menschen auszugrenzen ist das schlechteste und hat immer zu verwerflichen Situationen geführt.
Wer grenzt wen aus – die Geimpften die anderen?
Es sind die Entscheidungsträger. Es gab Leute, die andere stigmatisierten. Unsere Gesellschaft sollte das auch wissen. Und heute machen wir das wieder? Ich bin der Meinung, Impfen ist gut und richtig, es führt zu keinen Schäden. Ich bin viermal geimpft. Aber ich diskutiere auch gerne mit einem Impfgegner.
Können wir es festmachen: Sind Sie für die Impfpflicht?
Ich bin gegen Pflichten. Ich bin für staatsbürgerschaftliche Pflichten. Aber man muss auch das Recht des Staatsbürgers, freie Entscheidungen zu treffen, ernst nehmen. Er muss auch wissen, welche Konsequenz das für ihn hat. Menschen auszugrenzen ist furchtbar.
Das heißt, man müsste das Projekt Impfpflicht stoppen?
Das ist eine Katastrophe. Sie polarisieren die Gesellschaft bis zum Gehtnichtmehr. Unsere Vorväter haben gegen totalitäre Regime gekämpft. Eine Impfpflicht ist nicht zielführend, wäre die allerletzte Maßnahme. Man spielt mit dem Feuer.
Wäre 2G am Arbeitsplatz bei Wienerberger vorstellbar?
Wir haben klare Regeln. Ich habe die Impfung den Mitarbeitern nahegelegt. Aber wir sind auch soziale Lebewesen.
Wie konnte es so weit kommen?
Es wurde ein System aufgebaut, das dazu führte. Und es ist gewaltig gescheitert. Wenn gesellschaftliche Werte mit Füßen getreten werden, kann man nicht auf das Vertrauen der Bevölkerung zählen.
Wie gelingt die Wende?
Nicht mit Furcht und Schrecken, sondern einer Politik sozialer Kohäsion. Machen wir es messbar: Wir in der Wirtschaft sind jedes Jahr gezwungen, Bericht zu legen. Haben wir die Nachhaltigkeitsziele erreicht? Wo ist das staatliche Ziel zur Armutsbekämpfung, für die Ausbildung, für das Gesundheitswesen? Haben Sie jemals ein Ziel gesehen? Natürlich nicht, weil sie es nicht wollen.
Themenwechsel: Wie ist 2021 bei Wienerberger gelaufen?
Das sage ich mit Stolz für meine Tausenden Kolleginnen und Kollegen: Es ist das beste Jahr der Unternehmensgeschichte, es gab uns einen gewaltigen Schub bei Umsatz und Ergebnis. Wienerberger ist heute ein führender Systemanbieter geworden, wir kommen knapp an die vier Milliarden Euro Umsatz. Über 30 Prozent sind innovative Produkte, nicht älter als fünf Jahre. Wir sind wie ein großes Start-up.
Wie gelingt dieser Wechsel mit 200 Jahre Geschichte am Buckel?
Wir sind immer lokal, Finnen in Finnland, Esten in Estland. Und wir haben eine klare Vision. Die Nachhaltigkeit ist mehr als Klimawandel. Etwa die Kreislaufwirtschaft: 100 Prozent unserer neuen Produkte sind recycelt oder wiederverwendbar, des Weiteren wird an allen Wienerberger-Standorten ein Biodiversitätsprogramm implementiert, das wir auch dokumentieren.
Anders als die Politik?
Die Politik tut das alles nicht. Wir hatten gerade Krampus. Ein Amerikaner würde das nie verstehen: Immer mit der Rute, rein in den Sack – da ist Österreich stehen geblieben. Sie müssen positiv kommen, mit Vorbildern. Wir sind im Mittelalter stecken geblieben. Wir sind als Land am Scheideweg – werden wir ein sehr modernes Land, oder stecken wir weiter in der Vergangenheit?
Was bringt uns auf die Spur?
Der Willen zum Neuen, getragen durch die Gesellschaft.
Und wo wollen Sie mit Wienerberger hin?
Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht fünf Milliarden Euro Umsatz erreichen. Und damit im Baustoffwesen eine große Nummer weltweit werden.