Der 31. Jänner 2020 wird in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem das erste Land in der über 60-jährigen Geschichte der EU und ihrer Vorgängerorganisationen ausgetreten ist. Wirtschaftlich ist jedoch (noch) fast nichts passiert. Alle fundamentalen Probleme der langfristigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, die man seit dem britischen Referendum nicht lösen konnte, sollen nun in einem Abkommen bis Ende 2020 geklärt werden. Das wäre dann der wirkliche Brexit.

Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass der Zeitplan illusorisch ist. Er wäre es auch, wenn man sich inhaltlich schon weitgehend einig wäre; selbst dann dauern Verhandlungen über umfassende Handelsabkommen mittlerweile viele Jahre. Bei den anstehenden Verhandlungen zwischen UK und EU kommt aber dazu, dass die Vorstellungen der Briten nicht konsistent sind: Man kann nicht eigene Standards, eigene Regularien und eigene Handelsabkommen beschließen wollen und gleichzeitig möglichst eng an den gemeinsamen Markt der EU geknüpft sein, um wirtschaftlich davon zu profitieren. In vielen Bereichen täten sich sehr rasch schiefe Ebenen in die eine oder andere Richtung auf, die zu Konflikten und unerwünschten und zum Teil ineffizienten wirtschaftlichen Transaktionen führen würden.

Einen Großteil der Probleme könnte man durch eine Zollunion zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU lösen. Diesen Status wollen aber die Briten nicht. Und so werden wir auch diesen Sommer und Herbst lange Sitzungen, Ultimaten, Verschiebungen und politische Schuldzuweisungen zwischen den beiden Seiten erleben. Man kann nur hoffen, dass die Briten rasch einsehen, dass das Übergangsprovisorium auch etwas länger dienlich sein kann. Je länger es gilt, desto länger besteht natürlich auch eine gewisse wirtschaftliche Unsicherheit.

Die wahren Kosten des Brexits liegen aber möglicherweise ganz woanders: Die fortwährende Beschäftigung mit den Verhandlungen lähmt beide Seiten und lenkt die Aufmerksamkeit weg von den wichtigen Zukunftsthemen.

Martin G. Kocher leitet das Institut für Höhere Studien in Wien und ist Professor an der Universität Wien.