Endlose Lastwagenkolonnen an den Grenzen, Produktionsausfälle, weil Teile nicht rechtzeitig geliefert werden: Die Angst vor einem Brexit ohne Abkommen wächst. Morgen, Dienstag, wird im britischen Unterhaus eine Entscheidung über das von Premierministerin Theresa May mit Brüssel ausgehandelte Abkommen zum EU-Austritt erwartet.
Es gilt als unwahrscheinlich, dass der Deal im Parlament eine Mehrheit bekommt. Tausende Regelungen für Handel und Verkehr zwischen Großbritannien und der Europäischen Union (EU) drohen nach dem 29. März ungültig zu werden. Das trifft Reisende, Arbeitnehmer und Unternehmen.
LUFTVERKEHR: Bei einem Brexit ohne Deal drohen chaotische Zustände. Verkehrsrechte und Betriebsgenehmigungen würden in diesem Fall ungültig. Mit Sonderregeln für zwölf Monate will die EU zumindest einige Flüge aufrechterhalten. Störungen dürften trotzdem nicht ausbleiben. Der Airline-Verband IATA fordert eine gegenseitige Anerkennung von Lizenzen sowie Sicherheits- und Industriestandards. Andernfalls müssten etwa sämtliche Gepäckstücke von Passagieren, die über Großbritannien nach Europa reisen, künftig erneut durch die Sicherheitskontrolle. Lange Schlangen an der Passkontrolle seien unvermeidbar.
Vor besonderen Problemen steht der europäische Flugzeugbauer Airbus, der in Großbritannien etwa 14.000 Mitarbeiter beschäftigt. Im Vereinigten Königreich werden alle Flügel der Airbus-Verkehrsjets entworfen und hergestellt. "Das Worst-Case-Szenario, der harte Brexit ohne Vereinbarung, würde bedeuten, dass wir keine Teile über die Grenze bekommen", warnte der Chef der Airbus-Verkehrsflugzeugsparte, Guillaume Faury, schon im Sommer.
TOURISMUS: Britische Fluggesellschaften könnten ihr Recht verlieren, etwa von London nach Frankfurt oder Mallorca zu fliegen. Flüge innerhalb der EU wären für sie passe. Probleme kann es aber auch für den deutschen Ferienflieger Condor, der zum Reisekonzern Thomas Cook gehört, und TUfly geben, weil diese Anbieter nicht mehr mehrheitlich in EU-Eigentum wären. Die Konzerne rüsten sich mit Notfallplänen, damit ihre Maschinen auch bei einem ungeregelten Brexit nicht am Boden bleiben müssen. Für die Verkehrsrechte von Fluglinien ist nicht nur entscheidend, wo die Gesellschaft ihren Sitz hat, sondern auch, wem sie gehört. So müssen EU-Fluglinien zu mehr als 50 Prozent Eigentümern aus der Union gehören.
FINANZBRANCHE: Zahlreiche Banken haben angekündigt, Arbeitsplätze von London in andere Finanzzentren zu verlagern. Sobald Großbritannien aus der EU ausgeschieden ist, dürfen sie nicht mehr wie bisher von London aus Finanzgeschäfte in der Gemeinschaft betreiben. Für Dienstleistungen wie Einlagen- und Kreditgeschäft benötigen die Institute rechtlich selbstständige Einheiten in einem EU-Staat. Etwa 30 Geldhäuser haben bei der Bankenaufsicht daher eine Lizenz für Frankfurt beantragt. Viele Institute bauen zunächst darauf, dass sie einige ihrer vorhandenen Mitarbeiter nach Frankfurt schicken. Bei einem ungeordneten Brexit könnte es jedoch hohe Hürden geben. Arbeitsrechtler warnen, es sei dann kein Selbstläufer, dass Banker aus London die notwendige Arbeitserlaubnis in Deutschland erhalten.
MASCHINENBAU: Großbritannien ist der fünftwichtigste Einzelmarkt für Maschinen "Made in Germany". 2017 gingen Maschinen und Anlagen im Wert von 7,3 Mrd. Euro in das Vereinigte Königreich. Die Importe aus UK fielen mit 2,6 Milliarden deutlich geringer aus. Der Branchenverband der exportorientierten deutschen Schlüsselindustrie, VDMA, mahnt, die Unternehmen sollten erhebliche Verzögerungen und Engpässe beim Export und beim Import einplanen und ihre Lieferketten auf mögliche Abhängigkeiten von britischen Zulieferern prüfen.
AUTOBRANCHE: Großbritannien ist einer der wichtigsten Export-Märkte für Autos aus Deutschland. Zugleich produzieren deutsche Autobauer im Vereinigten Königreich, allen voran BMW mit den Marken Mini und Rolls-Royce. Rolls-Royce hat angekündigt, seine jährliche Herstellungspause im Werk in Goodwood auf April vorziehen, um auf einen chaotischen Brexit vorbereitet zu sein. Die Fabrik im britischen Oxford will BMW früheren Angaben zufolge direkt nach dem Brexit für etwa einen Monat schließen. So wolle man das Risiko von Engpässen bei Zulieferern für den Bau von Minis umgehen.
CHEMIE- und PHARMAINDUSTRIE: Großbritannien ist ein wichtiger Exportmarkt und Produktionsstandort. Etwa 17.000 Mitarbeiter deutscher Firmen stellen dort nach Angaben des Branchenverbandes VCI Vorprodukte her, die größtenteils in Deutschland weiterverarbeitet werden. Die Branche befürchtet Probleme bei Zulieferungen aus Großbritannien, weil relevante Zulassungen künftig fehlen könnten.