Vor wenigen Tagen war Christoph Leitl hier in Brüssel, Vorsitzender der Eurochambres, und hat bei einem gemeinsamen Auftritt mit EP-Präsident Antonio Tajani gesagt, er wundere sich manchmal, warum sich Europa als stärkste Handelsmacht der Welt von der zweitstärksten (gemeint ist Amerika, Anm.) so gängeln lässt. Das spielt jetzt auch in den österreichischen Ratsvorsitz hinein. Sind Sie als globale Unternehmer da betroffen, wie Europa agiert? Oder machen Sie einfach Ihr eigenes Ding?

Reinhold Steiner: Wir sind sehr wohl betroffen, was den Aktivismus in Amerika betrifft, durch die Zölle. Wir haben eigentlich auf noch mehr Geschäft in Amerika gehofft. Jetzt werden dort die Stahlwerke hochgefahren, die alten waren nicht wirtschaftlich. Für Amerika ist das kurzfristig gut, aber a la long wird die nachgeschaltete Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Das ist langfristig gesehen wirtschaftlich nicht gesund. Aber wir können unsere Produktionsmengen für Nordamerika massiv steigern, wir werden auch investieren. Trump hat allerdings einen anderen Umweltbegriff als wir in Europa.

Heimo Scheuch: Wir müssen schon unterscheiden, was über die Medien kommuniziert wird und was wirklich geschieht. Ich will Europa nicht schlechtreden, wir haben viel weitergebracht. Unser Handlungsspielraum ist limitierter. Der amerikanische Präsident kann für Amerika sprechen, der chinesische für China. In Europa gilt immer noch der alte Kissinger-Satz: „Wen darf ich anrufen in Europa? Im Telefonbuch finde ich ihn nicht.“ Dennoch gibt es viele, die meinen, sie müssen für Europa sprechen. Aber Europa ist fragmentierter, wobei das auch unsere Stärke ist. Es gibt auch viele positive Momente: Herr Juncker ist zu Trump gereist, wir lächeln darüber, aber sie haben Dinge erledigt. Wir müssen uns nur trauen, etwas zu tun. Die Maßnahmen, die die Kommission gesetzt hat – etwa bei der Strafe gegen Google – sind Schritte in die richtige Richtung. Die Amerikaner sind da schneller, die BNP Paribas, die Geschäfte mit dem Iran gemacht hat, hat gleich einmal ein paar Milliarden zahlen müssen. In Europa ist die Interessenlage komplexer – deutsche Interessen sind nicht gleich wie österreichische oder französische. Ich würde sagen, wir können durchaus selbstbewusster auftreten. Die europäische Kommission ist allerdings sehr oft getrieben von einzelpolitischen Interessen. Ein Beispiel: Sollte China wegen der Importzölle am gleichen Level-Playing-Field gesehen werden? Ich habe mit jemandem aus der Kommission diskutiert, ein Franzose, der hat gesagt: Wir müssen das differenzierter sehen, weil China ist der größte Exportmarkt für meine französischen Weinbauern. Da kommt die Interessenspolitik ins Spiel – einmal ist die Autoindustrie stärker, einmal die Landwirtschaft. Da müssen wir aufpassen. Eine gesamthafte Sicht über alle Branchen hinweg wäre wichtig.

Steiner: Wir sind Weltmarktführer mit Abstand und haben uns letztes Jahr mit dem anderen großen brasilianischen Mitbewerber zusammengeschlossen. Was ich sehe bei den großen Blöcken - China, Amerika, Russland in einer Sonderrolle auf dem Sektor Energie – Europa muss sich als solches finden und die eigene Rolle definieren. Das, was Herr Scheuch anspricht, funktioniert eben nicht. Das geht eine Ebene darunter bei den einzelstaatlichen Interessen. Europa muss sich definieren über einen Zeithorizont, der weit über den typischen fünfjährigen Wahlzyklus hinausgeht. An dem scheitern wir am Ende des Tages, wenn wir uns die Langfristigkeit in anderen Regionen anschauen. Ein Jahr lang wird Wahlkampf gemacht, ein Jahr lang wird überlegt wie machen wir das und zwei Jahre später ist wieder Wahlkampf und dann kommt vielleicht eine andere Regierung. Ich bin ein hundertprozentiger Demokrat, aber wir brauchen langfristig bespielte Themen, etwa bei der Digitalisierung oder CO2-Diskussion, aber auch jemanden der was macht. Nicht eine Person, aber eine Organisation. Ich sehe Europa in dieser Rolle.

Sie haben CO2 erwähnt. Ein Beispiel für den Kompromiss. Erst wird lang verhandelt, dann gibt es ein gemeinsames Ziel, mit dem aber alle nur schlecht und recht leben können. Im Vergleich zu China ist das ein Wettbewerbsnachteil, oder?

Steiner: Wir haben von drei Milliarden Umsatz etwa eine Milliarde in Europa, davon exportieren wir 50 Prozent. Aus Österreich 95 Prozent. Das ist ein absoluter weltweiter Wettbewerb. In Europa befassen wir uns mit dem Zertifikathandel, den gibt es nur hier. Das haben die Amerikaner nicht und nicht die Chinesen, die sich inzwischen sehr wohl auch der Umwelt verschreiben. Diese Auflagen und diesen internationalen Wettbewerbsnachteil haben wir, das ist für den Standort Europa ein relevantes Thema. Wenn Sie sich die Investitionen der letzten Jahre in unserer Branche anschauen, da wurden keine getätigt in kapazitätsrelevanter Größe. Wir tätigen Investitionen auch aus tiefster Überzeugung, etwa bei Umweltmaßnahmen, aber die richtigen Neuinvestitionen passieren in China oder anderswo. Da müssen wir uns die grundlegedne Frage stellen: Wollen wir Industrie in Europa haben, ja oder nein? Ich darf nachschicken: Die Emissionen, die wir pro Tonne Produkt in Europa emittieren, sind 35 Prozent weniger als Vergleichbares in anderen Ländern wie China. Eigentlich müsste man, um das Weltklima zu beeinflussen, um die diskutierten 1,5 Grad zu erreichen, alles in Europa produzieren, zumindest in unserer Industrie. Ein wichtiger Punkt, wenn man die Rechnung um den Globus macht. Und CO2 geht um den Globus. Und da reden wir nicht von Automobilen, sondern von Großindustrie. Ich nehme an, Sie sehen das ähnlich, Herr Scheuch?!

Scheuch: Das ETS-Beispiel ist sehr gut. Sie haben auch die drei Blöcke erwähnt, die ganz anders mit dem Thema umgehen. Wenn man nach Europa schaut, so stolpern wir von einem System in das andere. Wir haben jedoch gelernt damit zu leben, wir stellen uns darauf ein, sind flexibel. Ich muss schmunzeln, da ich in die Entwicklung vom ersten Stichtag an auf Industrieseite involviert war. Der CO2-Ausstoß, den wir in unserer Industrie in Europa machen, ist im einstelligen Prozentbereich, also verschwindend klein. Wir schaffen aber ein relativ komplexes administratives und schwerfälliges System, das uns alle Zeit und Geld kostet. Grundsätzlich ist es so, dass wir ein europäisches System schaffen, aber wir haben die einzelnen Mitgliedstaaten; das heißt, wir sprechen zwar von einer europäischen Lösung, diese ist aber in Deutschland deutsch, in Frankreich französisch usw. Es gibt immer die Möglichkeit, dass die Länder ihre Eigenheiten haben. Das ist das Problem des Standortes Europa, die Nicht-Einheitlichkeit des Rechtssystems. Dadurch haben wir gewisse Nachteile in der Wettbewerbsfähigkeit, nicht nur zu China, auch zur Türkei oder zu Nordafrika. Ich denke, wir in der Industrie sind wir uns einig, wir wollen und werden unseren Beitrag für ein gutes Klima auf dem Planeten Erde leisten und das tun wir ja auch. Wenn ich die Technologien und die getätigten Investitionen betrachte, etwa um Energieverbräuche und CO2-Emmissionen entsprechend runterzubringen, so haben wir viele Maßnahmen gesetzt. Wir wollen nur, dass wir uns auf einem fairen level playing field mit den anderen Wirtschaftsblöcken bewegen. Das geht leider nicht anders als mit Zöllen oder Hemmnissen. Aber CO2-Ausstoß ist nicht auf Europa beschränkt, hier braucht es ein weltweites Gesamt-Commitment. Zusätzliche Regeln sind immer schwierig. In Europa denkt man immer über Gesetze nach und nie darüber, wie man Initiativen für Resarch und Development oder für neue Technologien fördern kann, die der Wirtschaft Gelegenheit geben, noch mehr zu machen; etwa durch steuerliche Anreize. Es geht auch um die Möglichkeit, unser Know-how besser zu exportieren und etwa dafür Zertifikate zu bekommen. Ich finde unseren Ansatz in Europa manchmal zu bürokratisch.

Weil Sie von Wissenschaft und Forschung gesprochen haben: Es ist fraglich, ob man den mehrjährigen Finanzrahmen noch vor den EU-Wahlen durchbringt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat davor gewarnt, dass durch die Verzögerung in den ersten Jahren mehrere Tausend Forschungsplätze verloren gehen. Betrifft Sie das? Greifen Sie auf die Arbeit der Universitäten zurück?

Scheuch: Ich sehe das ganz pragmatisch. Wir bei Wienerberger arbeiten sehr viel mit europäischen Universitäten zusammen, wir sind ja in ganz Europa tätig und dann sind das sehr oft lokale Partnerschaften. Da geht es nicht um Fördergelder. Als langjähriger Kenner von Brüssel darf ich sagen: Sehr viel Geld fließt in Beratung. Da werden Mandate vergeben, die nichts mit Universitäten zu tun haben. Manchmal stelle ich mir schon die Frage, womit man sich da beschäftigt. Meines Erachtens ist genug Geld da. Wir in der Wirtschaft müssen auf jeden Cent schauen, wir werden durch die Aktionäre angehalten gut zu wirtschaften. Das europäische Steuergeld sollte auch gut eingesetzt werden.

Steiner: Wir geben 70 Millionen Euro jährlich aus für Forschung und Produktentwicklung. Die Zusammenarbeit mit Unis läuft auf Projektbasis, das sind nicht in erster Linie geförderte Universitätsthemen. Wir machen das weltweit. Ich bin gerade in Brasilien gewesen; in Minas Gerais, einem Bundesstaat, in dem wir Werke haben, ist die Regierung auf uns zugekommen, weil wir in der Digitalisierung der Old Economy so weit vorne sind. Sie haben gesagt, sie haben da etwas: Sie bieten den Zugriff auf Ressourcen aus einem Digitalisierungs-Start-Up an, wir arbeiten da jetzt an zwei Projekten zusammen. Natürlich werden wir das tun, mir gefällt das, wenn das eine lokale Regierung macht. Ich denke aber auch, dass wir hier in Europa kein Hemmnis haben. Forschung und Entwicklung ist in einem sehr speziellen Bereich etwas, das wir selbst bewerkstelligen können.

Nächstes Jahr werden in Europa durch die EU-Wahlen die Karten neu gemischt. Wenn Sie da in Hinblick auf den Standort Europa Wünsche frei hätten – welche wären das? Was war bisher ein Versäumnis?

Scheuch: Ich glaube auch, es geht nicht um zwei oder drei Jahre, es geht um Langfristigkeit. Man hat sich ein sehr ambitioniertes und gutes Ziel gesetzt; man möchte die industrielle Stärke Europas vorantreiben. Wir sind aber noch meilenweit von diesem Ziel entfernt und hinken einige Prozentpunkte nach. Es war jetzt ein wunderschöner Herbst in Brüssel, aber ich darf sagen, die Sommerpause sollte langsam vorbei sein. Wir müssen in die Hände spucken und müssen schauen, dass wir die Stärke und Kraft der Industrie in Europa noch weiter vorantreiben. Ich würde auch davor warnen, dass wir ständig neue Ziele formulieren. Wir leben im weltweiten Wettbewerb, aber im Politischen hat das Biedermeier wieder Einzug gehalten, jeder spricht nur von national und traditionell. Aber nehmen Sie das Stichwort Digitalisierung: Da braucht man die Rahmenbedingungen um ein führender Wirtschaftsbereich zu sein. Am Ende des Tages darf man eines nicht vergessen: Ob bei Artificial Intelligence oder Forschung und Entwicklung: Es sind immer die Menschen, die das machen. Wir haben einen eklatanten Mangel an Fachkräften. Aus- und Weiterbildung , das Heranführen der jungen Leute an die Industrie ist ein wesentlicher Punkt. Wir diskutieren in Frankreich sehr intensiv mit Vertretern der Politik, weil es viel Jugendarbeitslosigkeit gibt. Aber glauben Sie, sie bringen genug Schlosser und Elektriker in unsere Fabriken? Nein! Weil die Politik über Jahrzehnte den Menschen verkauft hat, dass sie im Dienstleistungsbereich besser dran sind. Industrie ist kein guter Platz zum Arbeiten. Damit müssen wir uns heute auseinandersetzen. Es geht um die Zukunft Europas und die kann man nicht populistisch über zwei, drei Jahre steuern. Ich würde mir ein kleines, schlankes, zukunftsorientiertes Europa mit einer reduzierten Zahl von Abgeordneten wünschen. Ein großer Apparat ist nicht notwendig. Schauen Sie sich unsere Holdings an, wie schlank die geworden sind und wie effizient da gearbeitet wird. Ich kann das doch auch in Europa anwenden, das würde viel positive Stimmung erzeugen. Ich bin jedoch Realist genug, um zu wissen, dass der kommende Wahlkampf von Populismus geprägt sein wird.

Steiner: Europa soll sich finden, was die Aufgabe ist, ist die Langfristigkeit im Wettbewerb mit den politischen Blöcken. Eine langfristige Strategie zur Festigung der Industrie ist für mich zu wenig sichtbar. Man muss konkrete Maßnahmen kaskadieren. Wir wissen seit der Präsidentschaft in Amerika dass man ein Land nicht führen kann wie ein Unternehmen, aber gewisse Ähnlichkeiten gibt es – man braucht eine Vision, eine Strategie und konkrete Maßnahmen, das fehlt mir, besonders in der Wahrnehmung außerhalb Europas. Innerhalb Europas haben wir einiges geschafft über die letzten zehn, 15 Jahre, da ist viel Gutes geschehen. Jetzt sollte man noch ein wenig nachschärfen bei den Regeln, die man hat – zum Beispiel in der Recyclingwirtschaft, die wir betreiben wollen - , da hakt es an der Umsetzung. Da fehlt das Handwerkliche, es gibt Hürden, über die man nicht leicht drüberkommt. Nur ein Beispiel: Wenn man das in zwei Ländern macht, dann ist ein Stoff in einem Fall Abfall, im anderen Recyclat und an der Grenze muss man umdeklarieren. Da waren durchaus kluge Köpfe beschäftigt, an der Umsetzung braucht es dann noch einen fokussierten Blick.