Liu Nayan ist eine Frohnatur. Sie näht in einer Fabrik im Süden Chinas für einen Schuhkonzern aus Taiwan Schuhteile zusammen. Rund 100 Euro bekommt sie dafür im Monat, plus Essen und ein Bett im Wohnheim. Ein gutes Leben sei das, findet Liu.

Gemessen woran? Am Leben ihrer Mutter, zum Beispiel. Die Mutter ging als Näherin in den Süden. Sie schuftete 14 Stunden am Tag, um ihren Kindern die Schulausbildung zahlen zu können. Der einzige Luxus, den sie sich gönnte, war die jährliche Heimreise zum Neujahrsfest.

Chancenlos. Wie die meisten Kinder aus Dorfschulen war Liu bei der Aufnahmeprüfung für die Universität chancenlos. Aber vom Leben betrogen fühlt sie sich trotzdem nicht. Anders als ihre Mutter hat sie geregelte Arbeitszeiten, eine Krankenversicherung und freie Wochenenden, an denen sie Englisch- und Computerkurse besucht. Von ihrem Einkommen schickt sie ein Drittel an ihre Familie, ein Drittel spart sie, den Rest gibt sie für kleine Schätze wie bunte Blusen, ein Schminkkästchen, Haarspangen oder Comic-Figuren aus. Diese Kostbarkeiten hortet Liu in zwei Koffern unter ihrem Bett im Wohnheim.

Angriff. Die westlichen Industrienationen sehen Chinas Aufschwung als Angriff auf ihre wirtschaftliche Vormachtstellung. China gilt vielen als großer Gewinner der Globalisierung, geführt von einer skrupellosen Regierung und reich geworden mit Billigprodukten, die in Ausbeuterfabriken hergestellt werden und im Westen Jobs vernichten. Das ist nicht falsch und dennoch nicht richtig. Zweifellos gibt es sie, die Ausbeuterfabriken. Doch die Alltagsrealität ist eine andere. Gerade in den großen Exportregionen, dem Perlfluss-Delta im Hongkonger Hinterland und dem Jangtse-Delta in Shanghai, sind Fabrikarbeiter längst nicht mehr hilflos Ausbeutungsopfer.

Arbeiter. Viele Unternehmen haben Mühe, Arbeiter zu finden. So beginnt in China knapp sechs Jahrzehnte nach Gründung der kommunistischen Volksrepublik ein neuer Klassenkampf. Schrittweise erkämpfen sich Arbeiter die Rechte, die ihnen die Partei nicht sichern konnte, es bilden sich Interessenvertretungen, mit denen die Manager zusammenarbeiten müssen, wollen sie die Belegschaft nicht an die Konkurrenz verlieren.