Renzo Simoni ist ein ruhiger Typ. Der 49-jährige Bündner ist ein richtiger Bergler. Doch nun gesteht auch er Lampenfieber ein: Als Chef der AlpTransit Gotthard AG, einer Tochter der Schweizer Bahn, ist er für die größte Baustelle der Schweizer Geschichte verantwortlich. Und am Freitag wird "sein" Tunnel durchstochen. Dann durchbohrt die Bohrmaschine die letzten Meter der Oströhre des Gotthard-Basistunnels. Das Fernsehen berichtet den ganzen Tag direkt aus dem Tunnel.

Der Bau des längsten Eisenbahntunnels der Welt ist ein Jahrhundertwerk. Für die 57 Kilometer langen Doppelröhren wurden in elf Jahren insgesamt 153 Kilometer Stollen durch die Felsen gebohrt und gesprengt. Es entsteht die erste Flachbahn durch die Alpen. Obwohl sie unter dem Alpenhauptkamm hindurchführt, liegt sie nur auf einer Höhe von 550 Metern über dem Meer. "Das bedeutet, dass Güterzüge von Rotterdam nach Mailand nur mit einer einzigen Lok bespannt werden müssen", sagt Simoni. Im Tunnel werden die Züge mit 250 Stundenkilometern fahren können.

Die Eröffnung ist für 2017 geplant. Der Bau kostet voraussichtlich neun Milliarden Euro. Die Finanzierung ist freilich längst gesichert: Die Schweizer hatten 1998 der Finöv-Vorlage zugestimmt. Mit ihr wurde eine Schwerverkehrsabgabe eingeführt. Danach zahlt jeder Lastwagen eine kilometerabhängige Abgabe. Die EU akzeptierte dies im bilateralen Landverkehrsabkommen von 2002.

Die Schweiz lässt sich derzeit auch nicht die Feierlaune durch Berichte verderben, dass selbst der Bahnbetrieb nie seine Kosten tragen wird. Verkehrsminister Moritz Leuenberger, der nach dem Durchstich sein Amt abgibt, hatte die mangelnde Rentabilität schon vor zwölf Jahren eingeräumt. Der Tunnel sei betriebswirtschaftlich so wenig rentabel wie die Feuerwehr.

Das kommt an im Eisenbahnland Schweiz. Nirgendwo wird pro Kopf so viel Zug gefahren wie hier. Nirgendwo ist das Bahnnetz so gut ausgebaut: Faktisch funktioniert es wie ein großes S-Bahnnetz, mit minutengenauen Verbindungen zwischen den Städten und guten Anschlüssen in jedes wichtigere Tal.

Doch der Erfolg der Befürworter wäre ohne Allianzen nicht möglich gewesen. Zum einen mussten andere Regionen befriedigt werden: Bereits 2007 wurde der Lötschbergbasistunnel zwischen dem Berner Oberland und dem Wallis eröffnet. Zum andern stellte sich eine Allianz von konservativen Bergregionen und rot-grünen Städtern hinter den Tunnelbau: Die einflussreichen Bergkantone sahen die Zahl der Lastwagen in ihren Tälern stetig zunehmen. Ziel ist es denn auch, die Zahl der Lastwagen im alpenquerenden Verkehr zu halbieren.

Die Schweiz hat den Ausbau der Transitstrecken immer auch als Beitrag zum Zusammenwachsen Europas gesehen - auch wenn das im benachbarten Tirol ungern gehört wird, das die Hälfte des Alpen-Güterverkehrs aufnehmen muss. Doch heimlich feiert die Schweiz so auch ihre Unabhängigkeit: Als EU-Mitglied hätte sie sich diesen Tunnel so jedenfalls nicht leisten können. Wenn am Freitag die EU-Verkehrsminister in Luxemburg gemeinsam per Bildschirm in den Gotthard schauen, dann wohl auch mit Neid: Nur die Schweiz darf die Straße für die Finanzierung der Bahn zur Kasse bitten.

Sie werden aber auch ein ungewöhnliches Spektakel sehen: Es wird, so Regisseur Volker Hesse, "den Kampf des Menschen mit dem Gotthard-Gestein auf poetische Weise erfahrbar machen". Immerhin haben die Schweizer zum Gotthard eine spezielle Beziehung: Denn um die Kontrolle über den Verkehrsweg am Pass ging es schon im Konflikt der Urschweizer mit den Habsburgern: Wegen dem Gotthard ist die Schweiz entstanden "und nicht wegen Wilhelm Tell", sagt der Tessiner Filippo Lombardi.