Professor Piketty, Sie werden als ein neuer Karl Marx gefeiert. Er sagte voraus, dass der Kapitalismus in einer Apokalypse enden werde. Glauben Sie das auch?

THOMAS PIKETTY: Das "Kapital" von Karl Marx ist ein dunkles Werk. Es ist sehr schwer zu verstehen. Marx hat interessante Frühwerke geschrieben. In Bezug auf die Entwicklung des Kapitalismus lag er aber schlichtweg falsch. Ihm fehlte eine solide Datenbasis.

Warum haben Sie das Buch geschrieben? Wollen Sie mit Ihrem Buch die Welt verändern?

PIKETTY: Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie ich die Welt verändern kann. Mein Buch dient dazu, eine bessere demokratische Debatte zu ermöglichen. Die Menschen sollen das Buch lesen, denn die Inhalte sind zu wichtig, um sie nur den Ökonomen zu überlassen.

War Ihnen klar, welche Debatte Sie lostreten würden?

PIKETTY: Ich war überrascht. Das Neue ist, dass ich mit vielen Menschen rund um die Welt, in Großbritannien, China, Indien und den USA, Daten sammelte. So wurde daraus eine Geschichte der Einkommen und Vermögen in über 20 Ländern der vergangenen 200 Jahre.

Die Hauptfrage lautet: Macht Kapital reicher als Arbeit?

PIKETTY: Die Rendite des Kapitals oder des Vermögens übertrifft langfristig die Wachstumsrate der Wirtschaft. Diese Tendenz lässt sich bereits vor der industriellen Revolution feststellen. Diese Kapitalanhäufung führt zu immer größeren Ungleichheiten in der Gesellschaft. In Zeiten der Wirtschaftskrise kann sich dieser Prozess sogar beschleunigen.

Ist das eine historische Norm?

PIKETTY: Ja. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass für die meiste Zeit der menschlichen Geschichte die Vermögensrendite größer als die Rendite aus Arbeit ist. Langfristig ist die Produktivitätsrate nicht höher als ein oder 1,5 Prozent. Das reicht auf Dauer nicht aus, um die Rendite aus Kapital von sechs Prozent zu überholen. Dieses Verhältnis bedeutet allerdings nicht, dass es für immer Ungleichheit gibt. In der Nachkriegszeit verringerte sich die Vermögensrate, während auf der anderen Seite die Wachstumsrate stark anstieg.

Der Abstand zwischen den Reichen und dem Rest scheint immer größer zu werden.

PIKETTY: Was wir sehen, ist, dass die Spitze der Vermögensverteilung um mehr als sechs Prozent pro Jahr wächst - und damit mehr als dreimal so schnell wie das Wirtschaftswachstum. Natürlich wird diese Entwicklung irgendwo enden. Wo genau, weiß niemand. Wir sollten allerdings nicht auf ein natürliches Ende hoffen. Es gibt keine natürliche Kraft, die die Vermögensrendite und das Wirtschaftswachstum wieder zusammenführt.

Das ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern könnte auch ein politisches Problem werden.

PIKETTY: Das kann es. Unsere Gesellschaften verstehen sich als Leistungsgesellschaften, Leistung soll sich lohnen. Wenn es Ungleichheiten gibt, dann sollten sie nicht auf Vermögen oder Erbe beruhen. Man muss die Ungleichheit begrenzen und benötigt hierfür gute soziale Institutionen, die dies realisieren. Die Entwicklung lässt vor allem die Mittelklasse schrumpfen.

Ist Ungleichheit immer schlecht?

PIKETTY: Ungleichheit ist nicht unbedingt schlecht. Sie kann für den wirtschaftlichen Wettbewerb sogar sehr nützlich sein. Das Problem entsteht dann, wenn die Ungleichheit zu groß wird, dann hat sie keinen Nutzen mehr für das Wachstum. Es ist immer eine Frage des Grades.

Was schlagen Sie vor?

PIKETTY: Anstatt abzuwarten und zu sehen, was passiert, sollten wir mehr Transparenz in Bezug auf Vermögen und auf die Bewegung von Kapital schaffen - dann können wir den Steuersatz anpassen. Ich bin für eine progressive Vermögenssteuer, die steigt, je reicher jemand ist. Sie soll nicht die Leute treffen, die anfangen, Vermögen anzuhäufen. Einkommen jenseits von 500.000 oder einer Million Dollar könnten mit einer Steuer von 80 Prozent belegt werden. Man muss die Besteuerung staffeln, damit die Mittelschicht nicht darunter leidet.

Eine globale progressive Vermögenssteuer wird von vielen für unrealistisch gehalten.

PIKETTY: Man könnte diese Steuer in den Ländern der Euro-Zone einführen. Oder im Rahmen der 20 größten Schwellen- und Industrieländer (G20). Es ist so ähnlich wie mit der progressiven Einkommenssteuer vor einem Jahrhundert. Damals hieß es, dass es so etwas niemals geben würde, heute ist sie Realität.

Hohe Steuern schrecken ab.

PIKETTY: Der Spitzensatz in den USA betrug zwischen 1930 und 1980 82 Prozent, das war ein sehr interessantes Experiment, weil es für sehr hohe Einkommen über eine Million Dollar herangezogen wurde.

Sie wurden gefeiert, aber mittlerweile gibt es auch eine massive Welle der Kritik an Ihrem Buch. Unter anderem wirft Ihnen die "Financial Times" Fehler im Umgang mit Daten vor. Sehen Sie Ihre Theorie gefährdet?

PIKETTY: Nein, sie ist nicht gefährdet, alle Daten sind ja zugänglich. Die Schlussfolgerungen bleiben von der Kritik - auch jener der "Financial Times" - unberührt. Allgemein gilt, dass die großen Vermögen im Verhältnis schneller wachsen als die des Durchschnitts. Das lässt sich durch jedes Ranking belegen.

Reicht das Wirtschaftswachstum nicht aus, um die Ungleichheit zu vermindern? Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es doch auch eine abnehmende Ungleichheit.

PIKETTY: Auf Dauer gesehen reicht es nicht. Dafür wären Zuwachsraten von vier, fünf Prozent nötig, die wir in Europa und den entwickelten Gesellschaften nicht mehr erreichen können. Was die Politik nicht leisten kann, ist eine Rückkehr zu den starken Wachstumsraten in der Nachkriegsära zwischen 1950 und 1970. Das kommt mit Sicherheit nie wieder.

Ist es also egal, was wir für eine Wirtschaftspolitik verfolgen?

PIKETTY: Politik spielt eine Rolle für Wachstum. Aber eine kleinere, als wir manchmal annehmen. Die Erholung in der Nachkriegszeit in Europa, Deutschland und Japan hing vor allem davon ab, dass sie alle amerikanische Hilfe erhielten. Das heißt nicht, dass die Politik nichts tun könnte. Ein Beispiel: Die politische Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 hätte in Europa deutlich besser sein können, wenn man die Ergebnisse mit denen der USA vergleicht. Was Politik nicht leisten kann, ist, für eine Rückkehr des Wachstums um vier oder fünf Prozent zu sorgen.

Ist eigentlich alles schlechter geworden?

PIKETTY: Keineswegs. Es gab eine große Reduzierung der globalen Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten, das ist sicher, etwa die Konvergenz zwischen den Schwellenländern und reichen Ländern. Der Wohlstand wächst insgesamt, nur die Verteilung wird zum Problem.