Es ist eine Szenerie, die schon fast kitschig anmutet: Inmitten unberührter Almlandschaft, am Ende des Schöttlgrabens in Oberwölz, liegt auf 1200 Meter Seehöhe das Forsthaus Grössing. Auf der prächtigen Terrasse vor dem weiß gekalkten Bauernhaus steht ein massiver Holztisch, darauf ein Webstuhl, verschiedene Fasern und Stoffe. Autos kommen hier so gut wie nie vorbei, die Geräuschkulisse wird von den Vögeln bestimmt, die unter dem Dach brüten. Hier sitzt Carmen Kaiser und verwebt Flachs. „80 bis 100 Jahre alt sind diese Zöpfe“, erzählt die 28 Jahre alte Designerin aus dem Bezirk Murau.
Ihre nachhaltiges Label „Scheinheilig“ hat sich weit über die Grenzen Österreichs hinaus einen Namen gemacht, die Werkstatt im Zentrum von Oberwölz platze aus allen Nähten. Im Vorjahr bezogen Kaiser und ihr Bald-Ehemann Fabian Gerschpacher das Forsthaus, richteten hier ihre Werkstätten und Verkaufsräume ein.
Mitten in der Natur findet die Gründerin nicht nur den Platz, sondern auch Ruhe und Inspiration für neue Projekte. „Ich habe lange versucht, alle meine Rohstoffe so regional wie möglich zu beziehen. Das macht Sinn, aber was wir oft nicht bedenken ist, dass die Menschen anderswo von unserer Kaufkraft abhängig sind“, erzählt die junge Designerin und zeigt auf beige Stoffmuster, die vor ihr auf dem Tisch liegen.
Ist es Leinen? „Nein, es sind Brennnessel. Das war bis nach dem Krieg auch bei uns in der Steiermark verbreitet, heute kennt kaum jemand mehr Kleidung aus Brennnesseln.“ Zwar eignen sich auch heimische Pflanzen mit ihren relativ kurzen Fasern für die Produktion, das ist aber sowohl mühsam als auch wenig effizient. „In Nepal werden die Brennnesseln drei bis fünf Meter hoch und sind viel stabiler als bei uns. Es ist eine alte Tradition, daraus Kleidung zu fertigen“, erklärt Kaiser.
Wertschöpfung für Nepal
Gemeinsam mit der Oberösterreicherin Christiane Seufferlein von „Faser und Farbe“ hat Kaiser ein Dorf gefunden, das das alte Handwerk noch betreibt. „Auch in Nepal gibt es leider überall Sweatshops, wo billigste Kleidung für Europa produziert wird. Wir unterstützen ein Dorf, damit sie wieder das tun können, was sie jahrhundertelang erfolgreich getan haben.“ So komme die Wertschöpfung wieder da an, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
Derzeit ist „Scheinheilig“ noch der einzige Anbieter von Brennnesselkleidung in Österreich, die Nachfrage ist groß. Verkauft wird nach ganz Österreich, vor allem aber nach Deutschland. Im Sortiment sind derzeit Hemden, Ponchos, Tücher, Schals oder Waschhandschuhe aus den Naturfasern.
Gesucht: Flachs
Apropos Fasern, was hat es mit dem alten Flachs auf sich? „Flachs war früher unglaublich wertvoll. Frauen haben die Flachszöpfe in sogenannten Aussteuer-Truhen gesammelt, das war quasi ihre Lebensversicherung für schlechte Zeiten.“ Auch diese alte Kulturtechnik ist fast verloren gegangen. „Flachs wird kaum noch angebaut bei uns, auch das will ich ändern“, so die 28-Jährige. Die Gewinnung der Fasern ist aufwendig und fordert viele Arbeitsschritte. „Ich bin daher auf der Suche nach altem Flachs, viele Menschen finden es in Truhen ihrer Großeltern und werfen es weg.“ Für Hinweise unter 0681-816 836 26 ist Carmen Kaiser dankbar.
Wer noch Kleidung aus Brennnessel oder sonstige Stücke aus der „Scheinheilig“-Kollektion erwerben will, hat bis 20. Juli Zeit – dann verabschiedet sich Carmen Kaiser in Karenz. Später sind auch Workshops am Forstgut geplant: „Die Menschen sollen den Wert von Kleidung wieder schätzen lernen – es ist kein Wegwerfprodukt.“