Frau Stelzl-Marx, „Holocaust vor der Haustür“ ist der Titel der wissenschaftlichen Konferenz, zu der Sie heute laden. Um was wird es dabei konkret gehen?

BARBARA STELZL-MARX: Im Mittelpunkt stehen die Todesmärsche ungarischer Juden. Sie wurden als Zwangsarbeiter beim Bau des Südostwalls eingesetzt und wurden auf verschiedenen Routen nach Mauthausen getrieben, als im April 1945 die Rote Armee vorrückte. Diese Todesmärsche sind eines der letzten Kapitel des Holocaust, es kam dabei zu einer Kulmination von Gewalt. Sie spielten sich nicht weit weg ab, sondern führten mitten durch die Orte.

Die Massenerschießungen am Präbichl und in Rechnitz während der Todesmärsche sind vielen bekannt. Anlass, das Thema aufzugreifen, ist allerdings der Liebenauer Prozess 1947. Was ist im Rahmen dieser Todesmärsche in Liebenau passiert?

Dort lag das größte NS-Zwangsarbeiterlager von Graz. 5000 bis 6000 ungarische Juden haben kurz vor Kriegsende auf dem Marsch nach Mauthausen im Lager Liebenau Station gemacht. Sie wurden medizinisch nicht versorgt, obwohl es Medikamente gab. Mindestens 35 Menschen wurden erschossen, im Mai 1947 hat man 53 Leichen in einem Massengrab am Lagergelände exhumiert.

Eine Tafel erinnert neben einer Stolperschwelle an das Lager
Eine Tafel erinnert neben einer Stolperschwelle an das Lager © Alexander Danner

Am Schluss des Prozesses standen zwei Todesurteile: Lagerleiter Nikolaus Pichler und Lagerführer Alois Frühwirt wurden gehenkt. Wie lässt sich erklären, dass die Geschehnisse in Liebenau dann schnell zu einem vergessenen Kapitel der Geschichte wurden?

Das Interesse an dem Prozess war extrem groß. Die Zeitungen haben täglich berichtet. Danach wuchs – im Fall des Lagers im wahrsten Sinn des Wortes – Gras über die Sache. Man richtete den Blick nach vorn, das Bedürfnis, sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, war nicht groß. Erst mit dem Bau des Murkraftwerks im Bereich des Lagers bekam das Thema vor einigen Jahren wieder gesellschaftspolitische Relevanz.

Teil der Konferenz ist ein runder Tisch zum Thema „Familiengedächtnis“. Nachfahren von Tätern, die wegen Endphaseverbrechen verurteilt wurden, nehmen daran teil. Wie kam es dazu?

Zwei Kinder des ehemaligen Lagerleiters von Liebenau haben sich an mich gewandt, weil sie in den Medien über die Aufarbeitung des Prozesses gelesen haben. Sie wollten mehr erfahren und haben dann unsere Forschungen sehr unterstützt. „Ich bin es den Opfern schuldig“, erklärte die Tochter den Grund, warum Sie sich dem Aspekt ihrer Familiengeschichte stellt, auch wenn es schwer auszuhalten ist. Und es sind Vertreter der Enkelgeneration dabei, die sich mit der Rolle ihrer Großväter bei den Erschießungen am Präbichl auseinandergesetzt haben.

Barbara Stelzl-Marx ist Zeitgeschichte-Professorin an der Uni Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung
Barbara Stelzl-Marx ist Zeitgeschichte-Professorin an der Uni Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung © Richard Großschädl

Welche Erkenntnisse bringen diese persönlichen Geschichten?

Die Geschichten prägen nachfolgende Generationen, gerade wenn ihnen vieles verschwiegen wurde. Und am Persönlichen sieht man die Ambivalenz: Da hat man den liebevollen Vater, der Ostergrüße aus der U-Haft schickt und auf der anderen Seite Exekutionen anordnet oder durchführt.

Was sagen Sie Menschen, die meinen, man sollte dieses Kapitel der Geschichte ruhen lassen?

Gerade jetzt haben Krieg und totalitäre Regime eine hohe Aktualität bekommen. Es ist wichtig, eine Sensibilität dafür zu entwickeln, was man tun kann, damit es nicht mehr soweit kommt. Und: Vieles sieht man nicht mehr auf den ersten Blick. Die Spuren der Vergangenheit sind aber subkutan in Landschaften und Biografien eingebrannt. Deshalb sollten wir uns damit auseinandersetzen.