Alte Landkarten an den Wänden, Tonbandaufzeichnungen, Urkunden in Kopie, Fotos seiner familiären Vorfahren aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg: Geschichte ist im Haus von Stefan Karner so präsent wie andernorts im Museum. Auch er selber hat Geschichte geschrieben: als Brückenbauer in der Kärntner Ortstafelfrage, als erster Historiker in den russischen Geheimarchiven. Am Sonntag feiert der Grazer Historiker seinen 70. Geburtstag und blickt im Gespräch mit der Kleinen Zeitung zurück.
KLEINE ZEITUNG: Vor genau 30 Jahren haben Sie aus Russland die bis dahin geheimen Daten zu 150.000 ehemaligen Kriegsgefangenen nach Österreich gebracht. Sie waren der erste Westeuropäer im sowjetischen Sonderarchiv, mit einem Schlag international bekannt. Was bedeutet dieser Erfolg für Sie heute?
STEFAN KARNER: Beruflich und wissenschaftlich war dies für mich der größte Meilenstein, bald konnte ich mithilfe des Schwarzen Kreuzes und der Leykam AG eine Auskunftsstelle und danach das Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung gründen. Heute ein Flaggschiff der zeitgeschichtlichen Forschung. Vor allem aber konnten wir Tausende Schicksale klären, Tausenden Menschen helfen. Margarethe Ottillinger beispielsweise oder auch in meiner eigenen Familie.
Wie das?
Durch Zufall stieß ich auf den Akt meines Großonkels Leopold Picej aus Kühnsdorf in Kärnten. Und entdecke sein grausames Schicksal: Man hatte ihn Anfang Jänner 1943 im Lager Pot'ma verhungern lassen. Seine Frau Katharina hatte bis zu ihrem Tod in den 1980er-Jahren gehofft, ihr Mann käme noch zurück und brachte es nicht übers Herz, ihn für tot erklären zu lassen. Allein hatte sie ihre beiden Töchter großgezogen, ohne die staatlichen Hilfen, die sie lange ausschlug, weil sie ja an die Rückkehr ihres Mannes glaubte.
Vor vier Jahren sind Sie dann in das ehemalige Lager gefahren, um dieses Schicksal zu Ende schreiben zu können.
Ja, Pot'ma. Es ist auch heute ein Gefängnis. Pussy Riot waren dort etwa inhaftiert. Mithilfe der Gefängnisverwaltung und russischer Kollegen gelang es, im weitläufigen Wald jene Stelle zu finden, wo man ihn in einem Massengrab beerdigt hat. Ich brachte die russische Erde seiner Grabstelle heim und legte sie in einer würdigen Zeremonie mit meinem Cousin, Diakon Buchleitner, in das Grab seiner Frau in Kühnsdorf. Sein Lebenskreis wurde damit geschlossen.
Mehr als 70 publizierte Bücher zeugen von Ihrer Passion: Ihre wichtigsten Forschungen galten der NS-Zeit, der Kärntner Zeitgeschichte rund um die nationale Frage, den Kriegsgefangenen aus Österreich, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Italien. Als Mensch verliert man hier auch sehr viel an Energie. Wo holen Sie sich diese zurück?
Es gibt Kraftorte, an die ich regelmäßig zurückkehre. Das Lachtal, der Klopeinersee oder die Stiftskirche Griffen. Dort habe ich mit 15 Jahren Kärntens stärkste Jungschargruppe gegründet und meine ersten Schritte in die Öffentlichkeit gesetzt, dort habe ich meine Frau Linde geheiratet, meine beiden Kinder getauft und auch meine Eltern zu Grabe getragen. Hier bin ich nicht nur der Historiker von heute, sondern der Stefan von damals – geerdet. Hier treffe ich meine Jugendfreunde. Im Alter darf man für all das bewusst Danke sagen. Besonders meiner Frau, die alles mitgetragen hat. Nur ein Stichwort, das aber viel sagt: Die Hochzeitsreise ging 1975 ins Bundesarchiv Koblenz (lacht).
Aktuell schreiben Sie an Erinnerungen über Ihre Arbeit in Russland. Was raten Sie den Historikern der Zukunft?
Kreativ, offen und hungrig nach Themen sein, immer die andere Seite hören, viel Mut und Ausdauer haben. Es braucht weiter Historiker, die Stellung nehmen, Zusammenhänge verstehen. Geschichte ist historische Gegenwart.
Sie haben gute Kontakte nach Russland. Wie wird die Situation dort wahrgenommen?
Sehr unterschiedlich. Jüngere und gut ausgebildete Leute aus den Städten fliehen v. a. nach Georgien, auch in die EU und zu uns. Andere entziehen sich den Einberufungen zur Armee und wenden sich vom System Putins ab. In den ländlichen Regionen, v. a. in Sibirien, gibt es eine deutliche Unterstützung für Putins Kurs, ja da und dort fordert man sogar eine verschärfte militärische Gangart.
Ist dies nicht auch der Propaganda und den Repressionen geschuldet?
Sicher auch. Seriöse Umfragen fehlen. Die Situation ist jedenfalls fragiler als sie scheint. Dem System fällt es zunehmend schwerer, den Menschen den Sinn des Krieges glaubhaft zu erklären.
Wie geht es den Medien? Erfahren die Menschen alles?
Mitnichten. Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit. Fernsehen und Radio senden weiter, Zeitungen schreiben weiter. Aber was man zu lesen und zu hören bekommt, ist staatlich verordnet und zensuriert. Die Medien sind gleichgeschaltet, die kritischen eingestellt, wie „Doschd“ (Regen). Hunderte Journalisten sind bereits im Ausland, auch bei uns. Wir dürfen sie nicht ignorieren. Sie werden nach dem Krieg wieder Pfeiler neuer Brücken in ein Russland, das den verlassenen Weg wieder aufnimmt.
Ewald Wurzinger