Vorwärts. Rückwärts. Seitwärts. Stopp. "Stopp! In den Teich da wollen wir nicht rein", tönt’s von Walter Fritz am Beifahrersitz. Aber noch lange, bevor das Auto schnurstracks im Wassergraben landen könnte, greift Fahrinstruktor Fritz im Arbö-Fahrsicherheitszentrum Ludersdorf ein, beziehungsweise ins Lenkrad. Der Ex-Rallyefahrer mit wohl einstelligem Ruhepuls ist an diesem Nachmittag so etwas wie das personifizierte Sicherheitsnetz für eine bunt durchgemischte Gruppe aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten, die jedoch eines eint: Alle sind blind oder stark sehbeeinträchtigt und dürfen heute selbst ein Auto steuern. Eine neue "Erfahrung". Mit Fahrschulautos, die Fritz und sein Kompagnon notfalls mit den Pedalen am Beifahrersitz bedienen können.
"Viele von uns sind noch nie einen Meter mit einem Auto gefahren und werden es auch nie dürfen, andere fühlen sich an alte Zeiten erinnert, als sie noch Sehkraft hatten", schildert Christian Scheuer (36), Obmann des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Steiermark (BSV).
Aber warum die Aktion, die der Arbö und die Fahrschule Galileo dem BSV (kostenfrei) ermöglichen? Schließlich werden bis zum autonomen Autofahren wohl noch Jahrzehnte vergehen. "Es geht darum, dass wir als Gemeinschaft Neues erleben. Aber es geht vor allem darum, dass blinde Menschen auch einmal in die Rolle anderer Verkehrsteilnehmer schlüpfen und ein Gefühl bekommen, wie der andere tickt oder wie lange es dauert, bis ein Auto zum Stillstand kommt", sagt Schoier, der wenig später etwas angespannt losfahren, aber wie alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit umso breiterem Grinsen im Gesicht wieder aussteigen wird. Vor allem, weil Fritz die berüchtigte "Schleuderplatte" samt Wasserfontänen aktiviert hat.
"Forever a Fighter"
Geradezu vorbildlich fängt Sabrina Spitaler (31) das schlingernde Auto bei ihrer Fahrpremiere ein. Ihre Augen sind extrem lichtempfindlich. "Wenn es hell ist, sehe ich nur weiß", sagt die IT-Technikerin, die sich von ihrer Einschränkung nicht die Lebensfreude verdrießen lässt. "Forever a Fighter", für immer Kämpferin, ließ sie sich auf ihren Arm tätowieren. Ein "Festival-Tattoo" (sprich: Sonnenbrand rund um den Hals) zeugt wie die bunten Nova-Rock-Armbänder davon, dass die Grazerin stets lieber mittendrin, statt nur dabei ist.
"Bau mir das Bild des ID3 im Kopf zusammen"
Genauso wie ihr Freund Robert Wölfler, der trotz Erblindung zumindest Autobesitzer ist – wenngleich im Alltag andere damit fahren müssen. "Der alte Opel Corsa ist ein Erbstück meiner Oma." Der 31-Jährige war nicht immer blind. "Ich bin am Bauernhof aufgewachsen und als Kind auch Traktor gefahren", erzählt der Murtaler. Aber weil er einige Wochen zu früh auf die Welt kam, "hatten meine Augen in der Pubertät einen Wachstumsschub, der die Netzhaut zerstört hat." Am besten, sagt Wölfler, gefalle ihm der neue ID3 von VW. Aber wie geht das, wo er ihn doch nicht sehen kann? "Ich weiß von früher noch, wie Autos aussehen. Den Rest ertaste ich und baue ich mir dann als Bild in meinem Kopf zusammen", erzählt Wölfler, der als Angestellter des BSV auch die dortigen "Dinner im Dunkeln" organisiert.
Spendenaufkommen sinkt
"Zum Glück können wir nach der Pandemie die Dinner wieder anbieten, das brauchen wir auch finanziell", sagt Obmann Schoier. Denn: "Mit der Ukraine-Krise hat sich die Spendenbereitschaft umgelenkt, wir verzeichnen ein Spendenminus von 34 Prozent."
In der Zwischenzeit steigt Manfred Ernst glückselig ins Auto ein. Doch sein Cowboyhut und sein wiederholtes Fragen – "Welches Motorrad fährt da vorne vorbei?" – verraten, wofür sein Herz schlägt: "Ich hatte vor meiner Erblindung zwei Motorräder." An diesem Tag hilft ihm aber auch Walter Fritz, den richtigen Weg einzuschlagen: Und der führt stets nach vorne.
Ulrich Dunst