Es gibt kaum einen Sport, in dem Triumph und Tragödie so nahe beisammenliegen wie im Skisport. Am 21. Jänner 2017 fuhr Valentin Giraud-Moine erstmals in seiner Karriere in einer alpinen Weltcupabfahrt auf das Podest. Und das noch dazu im „Heiligtum“ des Skisports, auf der Streif in Kitzbühel. Zwei Tage danach feierte er seinen 25. Geburtstag und schien auf dem besten Weg, sich in der Weltklasse des Abfahrtssports zu etablieren. Weitere vier Tage danach, am 27. Jänner, schlug das Schicksal zu – und man mag nichts Böses denken, dass es kurz nach der Streckenpassage „Hölle“ in Garmisch-Partenkirchen passierte.

Giraud-Moine kam zu Sturz, die Folgen waren verheerend: Er brach sich beide Schien- und Wadenbeine, in beiden Knien waren alle Bänder gerissen. Und lange war nicht klar, ob es ihm ergehen würde wie einst Matthias Lanzinger nach dessen Sturz in Kvitfjell. Eine Amputation der Beine drohte. „Aber er hatte Glück“, sagt Salomon-Rennleiter und Ex-Rennläufer Günther Mader, „denn die Nervenstränge waren nicht beschädigt“.

Dazu kam, dass man im Krankenhaus in Lyon auf eine Methode setzte, die zuvor selten praktiziert worden war. Statt die gerissenen Bänder aus den eigenen Sehnen zu rekonstruieren, bekam der Mann aus der Provinz Hautes-Alpes sozusagen Spenderbänder. „Bei Valentin hätte man so viele Bände rekonstruieren müssen, das wäre mit einem großen Kraftverlust einhergegangen“, sagte Jean-Marie Fayard, verantwortlicher Chirurg der medizinischen Kommission des französischen Skiverbandes in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. „Das wahre Problem aber war, ihm klarzumachen, dass er mit Bändern aus den eigenen Sehnen wohl nicht mehr zurückgekommen wäre. Die Allotransplantation war die einzige Chance.“

Giraud-Moine nützte diese Chance. Und nahm den Kampf auf, im wahrsten Sinne des Wortes Schritt für Schritt. Zwei Monate nach der Operation konnte er erstmals wieder stehen – im Reha-Schwimmbecken unter Wasser. Er musste das Gehen neu lernen, musste sich alle motorischen Fähigkeiten neu antrainieren. Und am 23. November des Vorjahres, fast auf den Tag neun Monate nach dem schweren Sturz, war das erste kleine Wunder perfekt: „Ein Monat im Bett, zwei Monate auf dem Sofa, sechs Monate harte Arbeit – und heute habe ich das grüne Licht bekommen, wieder auf Ski steigen zu können“, schrieb er auf Instagram. „Ich habe lange nicht geglaubt, dass es geht, es war schwer. Aber irgendwann erkannte ich, was ich für Fähigkeiten habe. Als ich wieder bergab gehen konnte, fasste ich das erste Mal Vertrauen, wieder Ski fahren zu können.“

Comeback - ohne zu überstürzen

Langsam, fast behutsam, tastete er sich heran, auch der französische Verband überstürzte nichts. In der Vorsaison stand er zwar auf Ski, „mit eigenen Trainern, ohne Druck. In seinem Fall muss man das alles einfach aus einer anderen Perspektive sehen“, sagt auch Günther Mader. 663 Tage lang kämpfte er um die Rückkehr, in Lake Louise kehrte er Ende November auch offiziell in den Weltcup zurück. Und meinte da: „Ich hatte viel Glück.“ Und meinte damit eben, dass seine Nerven ganz geblieben waren, dass er den Sturz mit zwar schwersten, aber eben nur körperlichen Blessuren überlebte. Und dachte dabei an den Sturz seines Teamkollegen David Poisson, der im Jahr davor bei einem Trainingssturz in Kanada unmittelbar vor dem Saisonstart tödlich verunglückt war.
Seine Teamkollegen erzählten damals, warum sie trotzdem immer wieder auf die Skipiste zurückkehren. „Man akzeptiert kaputte Knie, man akzeptiert, dass man sich im Netz findet. Das hat man auch bei Valentin gesehen. Man sagt sich, dass Verletzungen eben Teil des Spiels sind“, sagte Teamkollege Blaize Giezendanner im französischen „Eurosport“. Aber er ergänzte auch: „Zum Spiel gehört aber auch, nicht zu sterben. Niemals wird ein Abfahrer sagen: Heute könnte ich auch sterben.“

Die erhobene Faust - trotz Platz 46.

Giraud-Moine ist nicht gestorben und er hat auch seinen Traum vom Skisport am Leben gehalten. In Lake Louise kehrte er zurück und meinte nach dem ersten Training: „Es war bewegend. Aber das ist es beim ersten Training immer, da ist man gestresst.“ Er fuhr im Rennen auf Platz 46, fast drei Sekunden hinter Sieger Max Franz. Und hob doch die Faust. Zu Recht: Wieder im Ziel einer Abfahrt zu sein, ist ein Sieg. Auch wenn er weiß, dass noch viele Siege folgen müssen, kleine Siege über sich selbst. „Ich bin zufrieden, weil ich das geschafft habe, was möglich war. Ich will auf meinem Niveau alles geben.“

So, wie er es seit dem schweren Sturz getan hat, 666 Tage lang, bis er sich den Traum vom Skifahren im Weltcup wieder erfüllte. Wer so lange in kleinen Schritten kämpft, dem ist auch zuzutrauen, dass er auch die nächsten Ziele erreicht: „Wieder Weltcuppunkte zu machen, in die Top 30 zu fahren.“ In Beaver Creek fuhr er auf Platz 53, in Gröden auf Rang 55. Am Mittwoch steht das erste Training für die Abfahrt in Bormio am Freitag auf dem Programm. Aber wer weiß, vielleicht schafft er es im neuen Jahr ja just in Kitzbühel in die Punkteränge. Dort, wo er 2017 so großartig fuhr, Zweiter hinter Dominik Paris war. Es wäre der Endpunkt einer Reise vom Sporthimmel in die Hölle von Garmisch – und wieder zurück.