Herr Grugger, man sagt schnell "Frohe Weihnachten". Es sind die ersten nach dem Sturz von Kitzbühel, dem Fall ins Koma, dem Aufwachen, dem Weg zurück. Wie froh wird Weihnachten 2011 für Sie wirklich?

Hans Grugger: Ich glaube, dass es schon etwas Spezielles sein wird. Aber vom Ablauf her werden wir es so belassen, wie wir es immer gehabt haben. Zu Hause feiern, ganz gemütlich vor dem Christbaum sitzen. Da wird sich nicht viel ändern. Aber ... es ist ja doch das erste Weihnachtsfest nach dem Unfall. Und dass ich das noch einmal erleben darf ...

Sie sagen das ,noch einmal erleben darf' so locker. Dabei war es wirklich an der Grenze.

Grugger: Natürlich klingt das komisch. Aber es ist ernst gemeint. Ich bin froh, dass ich es erleben darf. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Ich bin glücklich und froh, dass ich fast wieder im Besitz meiner geistigen Fähigkeiten bin.

Sie sagten: fast. Und zuletzt, dass sie beim Schifahren auf 50, 60 Prozent sind. Stimmt das?

Grugger: Das ist in Prozenten schwer auszudrücken. Bei Sprüngen zum Beispiel bin ich erst bei 25 Prozent. Wenn es um den Rumpf geht, bin ich dafür bei 90. Fix ist: Es fehlt körperlich noch einiges. Vor allem im rechten Bein, wo ich nach wie vor kein Gefühl habe.

Haben Sie eigentlich mit Daniel Albrecht Kontakt gehabt? Er stürzte ein Jahr vor Ihnen in Kitzbühel und lag ebenso im künstlichen Tiefschlaf.

Grugger: Ich habe mich lange nicht getraut, anzurufen. Aber wir haben gesprochen, ja.

Kann er Ihnen denn Ratschläge geben?

Grugger: Nicht wirklich. Wir hatten zwar beide ein Schädel-Hirn-Trauma, aber keines ist mit dem anderen vergleichbar. Ist das Trauma nur einen Millimeter woanders, sind andere Areale betroffen. Aber grundsätzlich gibt es Gemeinsamkeiten, über die man spricht.

Was war bei Ihnen betroffen?

Grugger: Der rechte Fuß war gelähmt, bis zur Hüfte ist das Bein nach wie vor nicht ganz okay. Aber im Vergleich zum Anfang funktioniert es schon super. Ganz zu Beginn konnte ich nicht einmal gehen. Und dann hatte oder habe ich die allgemeinen Folgen eines Komas und des Traumas: Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwächen. Ich hatte nach den Wirbelbrüchen Probleme mit dem Genick, aber das geht jetzt schon tadellos.

Wie war die Erfahrung, alles neu lernen zu müssen?

Grugger: Ich kann nicht sagen, wie das ist. Weil ich an die ersten vier Wochen nach dem Aufwachen keine Erinnerungen habe. Die kommt mit dem Tag, an dem ich in die Reha in Hochzirl gekommen bin.

Trotzdem wollen Sie wieder Schifahren - im Weltcup noch dazu. Verstehen Sie all jene, die das nicht verstehen?

Grugger: Klar. Aber ich verstehe auch oft nicht, warum andere Leute bestimmte Dinge machen. Sie tun es trotzdem. Und das mit dem Schifahren ist ganz einfach tief in mir drinnen. Es ist nicht leicht, es rauszukriegen und zu sagen: Ich mach' das jetzt nicht mehr. Deswegen habe ich mir das Ziel Weltcup gesetzt.

Ist das realistisch?

Grugger: Das kann ich nicht sagen, ich will es versuchen. Das Ziel ist vor allem, fit zu werden. Klar ist der Weltcup hoch angesetzt. Wenn ich 100 Prozent schaffe, ist das wie ein Traum. Wenn ich nur 80 oder 90 Prozent erreiche, werde ich auch glücklich sein. Denn auch dann habe ich schon gewonnen. Weil ich dann im Alltag wieder alles machen kann.

Haben Sie sich dieses hohe Ziel als Motivation gesetzt? Wie es Sportler tun?

Grugger: Ja, das kann schon sein. Aus gesundheitlicher Sicht war die Entscheidung, es zu versuchen jedenfalls optimal. Weil ich von Anfang an Biss und Ehrgeiz gehabt habe.

Gibt es einen Zeitpunkt, wo Sie sagen: Das war's?

Grugger: Zum jetzigen Zeitpunkt denke ich, wenn ich auch nächstes Jahr kein Rennen fahren kann, wird es schwierig. Dann packe ich die Schi zusammen und werde mir eine vernünftige Arbeit suchen müssen.

Was wäre denn eine vernünftige Arbeit?

Grugger: Ich hatte einige Sachen im Kopf. Aber genau weiß ich nicht, was für mich interessant wäre. Ich sehe mich als Sportler - und darauf konzentriere ich mich zu hundert Prozent.

Einmal ehrlich: Ihre Freundin Ingrid, selbst Ex-Rennfahrerin, hat ihr Koma miterlebt. Wäre ich an ihrer Stelle, wenn Sie mir sagen, Sie wollen wieder in den Weltcup, würde ich fragen: Spinnst du jetzt komplett?

Grugger: Sie hat mich eh' gefragt, ob es mir noch ganz gut geht und ob mir bewusst ist, was ich da gerade ausspreche.

Und dann?

Grugger: Dann haben wir sehr viel darüber geredet. Ich habe ihr meine Sicht erklärt. Sie hat mir alles erzählt, von Anfang an. Sie hat mir den schlimmsten Teil meiner Verletzung wieder bewusst gemacht, weil ich ja keine Erinnerung mehr daran hatte. Das Schlimmste hab' ich nicht miterlebt. Und natürlich ist ab und zu der Gedanke da, ob es das Richtige ist, was ich tue. Aber ich tue es so gerne. Es macht Spaß, wieder Schi zu fahren.

Was wäre, wenn sie Nein gesagt hätte?

Grugger: Dann hätte ich gesagt: Ich lasse das mit dem Schifahren. Auch wenn es mir schwergefallen wäre.

Wie war die Zeit des Bangens denn für Ihre Freundin?

Grugger: Die ersten Wochen waren Hardcore. In Hochzirl war sie jeden Tag da, ist zwischen Vorlesungen in Innsbruck zu mir gefahren. Das war irrsinnig positiv für mich und meinen Heilungsverlauf. Sie hat da sicher starke Nerven gebraucht, wegen meiner Gedächtnisaussetzer und Erinnerungslücken. Ich hab' oft vergessen, was ich ihr am Vormittag gesagt habe und ihr alle halbe Stunden dasselbe erzählt. Das war nicht einfach für sie.

Und jetzt? Denken Sie nie an eine Familie? Kinder?

Grugger: Ingrid studiert noch eineinhalb Jahre. Dann werden wir wohl ein ernstes Gespräch führen. Kinder will ich auf jeden Fall. Und ich denk', die Ingrid auch.

In der Zeit nach dem Unfall - spielt da der Glaube eine Rolle?

Grugger: Sagen wir so: Ich bin gläubig, aber nicht der Gläubigste. Ich bin überzeugt, dass es über uns etwas gibt. Und das hat bei mir einen guten Tag gehabt. Es hat in diesem Moment auf mich geschaut und mir die Möglichkeit gegeben, weiterzuleben. Es ist schwer verständlich, warum ich dieses Glück gehabt habe.

Sie sprechen von Glück?

Grugger: Ja. Es war sehr schwer anzusehen, wie Leute nach derselben Verletzung beisammen sind, wie Scheiße es ihnen geht. Da kommt öfter die Frage in dir auf: Warum hab' ich so ein Glück und der neben dir so ein Pech? Das ist irrsinnig schwierig, nicht zu beantworten. Ich mache mir nach wie vor sehr viele Gedanken darüber. Aber ich bin zum Schluss gekommen, dass ich das so annehmen muss, wie es ist. Und dass ich das Glück gehabt habe.

Aber Sie hatten davor schon viel Pech, viele Verletzungen. Der Gedanke "Warum ich" - der ist Ihnen nie gekommen?

Grugger: Natürlich kommt der Gedanke, aber nur kurz. Mir hat ja niemand angeschafft, dass ich so eine verrückte Sache machen muss wie die Streif in der Hocke zu fahren. Und dazu kommt: So wie der Unfall war, ist er erklärbar. Ich habe einen Fehler gemacht, hatte Druck am Schi. Insofern hat sich die Frage ,Warum ich?' nicht gestellt. Oder nur kurz.

Was war dann die Antwort?

Grugger: Die Antwort kenne ich nicht. Ich sehe es als glücklichen Zufall, dass mir das in Kitzbühel passiert ist. Dass die Flugretter gleich da waren, dass in Innsbruck alles so gut funktioniert hat. Deswegen bin ich ein Positiv-Denker. Ich habe Glück gehabt - mit Ausnahme der Tatsache, dass es mich genau auf die Rübe gehaut hat.

Sie sind am 13. Dezember 30 Jahre alt geworden. Feierten Sie diesen Tag? Oder feiern Sie jetzt zwei Mal Geburtstag?

Grugger: Es war schon ein Gefühl, als ob man auch den ersten Geburtstag feiern würde. Der Unfall war ein einschneidender Moment. So gesehen kommt der erste Geburtstag wirklich noch: am 20. Jänner 2012.

Und dann? Gibt's eine Geburtstagstorte? Oder zünden Sie eine Kerze an?

Grugger: Vom Tortenessen und Kerzen anzünden halte ich nicht viel. Aber ich werde mir sicher einen Moment Auszeit nehmen. Mich zurückziehen, nachdenken. Den Moment und die Tatsache genießen, dass ich da bin. Still und leise ,Danke' sagen.