Football blickt zurück auf eine lange Tradition. Die NFL selbst feierte jüngst ihren 100. Geburtstag. Eine Konstante dabei waren mehr oder minder klar formulierte Positionen für einzelne Spieler; Positionen, die stets weiterentwickelt wurden, aber letztlich im Laufe der Jahre immer klarer definiert und von Spezialisten besetzt wurden.

In den vergangenen paar Jahren allerdings ging der Trend in die andere Richtung. Eine Aufweichung der Positionen war die Folge, offensiv wie defensiv.

Offensiv äußert sich das Ganze dadurch, dass Spieler variabler wurden und auf verschiedenste Weisen agierten - der klassische Tight End etwa macht immer mehr Platz für den eher stämmigen Receiver-Typen, der auch noch schnell ist wie ein Travis Kelce oder ein George Kittle.

Der klassische Running Back wiederum wird häufiger durch einen Spieler ersetzt, der locker auch als Receiver agieren und sich überall auf dem Platz positionieren kann - man denke an Christian McCaffrey, Alvin Kamara oder auch James White. Defensiv wiederum wird Play-Callern noch sehr viel mehr Freiheit diesbezüglich eingeräumt.

Defensive Flexibilität ist Trumpf

In letzter Zeit sahen wir immer häufiger Defensiv-Formationen, die Konvention aus dem Fenster warfen und komplett neu daherkamen. Teilweise wurde nur noch ein Down-Lineman postiert, dahinter eine Vielzahl an Linebackern oder Defensive Backs. Die Chargers etwa stoppten die Ravens und Lamar Jackson in den Playoffs nach der Saison 2018 mit acht Defensive Backs. Der Fantasie sind im Grunde keine Grenzen gesetzt.

Gleiches gilt auch für besonders einen Spieler im diesjährigen NFL Draft: Isaiah Simmons von Clemson.

Offiziell ist er als Linebacker gelistet und arbeitete entsprechend auch mit dieser Positionsgruppe bei der NFL Combine Ende Februar in Indianapolis. Doch fragt man ihn selbst nach seiner Position, kommt als Antwort schlicht: "Defense". Und das ist keine Simplifizierung, sondern vielmehr eine akkurate Beschreibung für diesen einzigartigen Spieler.

Allein 2019, sein bestes College-Jahr für die Tigers, war er überall anzutreffen auf dem Platz. Laut Pro Football Focus kam er letztlich auf 738 Snaps auf dem Platz. Bei 106 stand er an der Defensive Line - als Defensive End -, bei 239 war er ein sogenannter Box-Linebacker, 256-mal spielte er Slot-Cornerback, siebenmal Outside-Cornerback und 130-mal war er Deep Safety.

Simmons war überall - und überall richtig gut. Er war laut PFF der einzige Spieler im College Football mit Grades von mindestens 80,0 als Run-Defender, Tackler, Pass-Rusher, Coverage Man und als Verteidiger insgesamt.

Isaiah Simmons: College-Statistiken bei Clemson Tigers

Jahr Spiele Tackles Tackles for Loss Sacks Interceptions Passed Defensed 2016 1 1 0 0 0 0 2017 13 45 3 1 0 6 2018 15 88 9 2 1 6 2019 15 104 16,5 8 3 8

Dass er bei der Combine gerade im Hoch- und Weitsprung sowie beim 40-Yard Dash brillierte und in allen Bereichen Top 3 war, sollte dabei kaum überraschen, da er bereits zu High-School-Zeiten und auch noch in seinem ersten Jahr bei Clemson 2016 als Redshirt-Freshman als Sprinter und im Weitsprung in der Leichtathletik glänzte.

Auf der High School spielte er sogar Running Back und später Wide Receiver neben seiner Rolle als Safety. Simmons ist ein schier unglaublicher Athlet, der nicht zuletzt von ESPN kürzlich als "Defensive Weapon" bezeichnet wurde.

Doch was macht diesen Ausnahme-Athleten so besonders? Seine Physis in jedem Fall, aber offenbar auch seine mentale Stärke. Ähnlich wie eine Heerschar von Draft-Experten hat sich auch Simmons selbst mit seiner Einzigartigkeit auseinandergesetzt und sieht es positiv.

"Ich denke, meine Vielseitigkeit ist wirklich gut für mich. Ich weiß, dass es vor Jahren nicht gut war, ein Spieler ohne echte Position zu sein", sagte Simmons bei der Combine und spielte damit auf Spieler der Vergangenheit an, die zwar auch gute Athleten waren, aufgrund einer fehlenden klaren Position aber immer wieder hin und her geschoben wurden, ohne wirklich irgendwo richtig zur Geltung zu kommen. "Aber nun ist es etwas Gutes für mich, da ich all diese Vielseitigkeit bieten kann."

Der Fluch der Vielseitigkeit

Letztlich kommt es also darauf an, wie kreativ der jeweilige Head Coach oder Defensive Coordinator mit einem solchen Spieler umgehen wird. Eine Bedingung, die Simmons letztlich überhaupt erst nach Clemson geführt hat. Sein Wunsch war es, für die Arkansas Razorbacks zu spielen, doch die boten ihm letztlich gar kein Stipendium an, weil sie schlicht nicht wussten, wie sie Simmons einsetzen sollten.

Ganz anders Brent Venables, der Defensive Coordinator der Tigers unter Head Coach Dabo Swinney. Venables machte sich schon früh stark für Simmons, der dann überzeugt war von Clemson - seine anderen Alternativen waren indes Michigan und Nebraska.

Bis zur vollen Entfaltung jedoch brauchte auch Simmons ein paar Jahre. Nach seinem Redshirt-Jahr 2016 spielte er 2017 hauptsächlich Safety. Mit seinen 1,93 Metern und 104 Kilogramm war er zwar verhältnismäßig groß für die Position, doch brachte er auch den nötigen Speed mit.

2018 dann entwickelte sich Simmons' Rolle mehr zu einem Rover, einem Spieler, der variabel da aushilft, wo er eben gerade gebraucht wird. Er spielte viel im Slot und auch als Linebacker. 2019 dann blühte er komplett auf, nominell als Linebacker, was ihm den Butkus Award für den besten Linebacker im Land einbrachte.

Er war ein einstimmiger All-American und wurde sogar zum Defensive Player of the Year der ACC gewählt. Abgesehen davon machte er seinen Abschluss in Sports Communications und meldete sich anschließend zum Draft.

Isaiah Simmons' Vorbild? Unter anderen Von Miller

Angesprochen darauf, ob er irgendein spezielles Vorbild habe, demonstrierte Simmons einmal mehr sein Selbstvertrauen und seinen Fokus: "Wenn ich mir Tape von irgendwem anschauen müsste, um mir in bestimmten Bereichen etwas abzuschauen, dann wäre es Von Miller einfach für den Pass Rush, Jalen Ramsey für seine Man Technique und Tyrann Mathieu, einfach, weil er wie ich überall zu finden ist."

Schaut man sich Simmons' Qualitäten im Einzelnen an, fällt auf, dass sich seine Athletik vor allem darin widerspiegelt, dass er eben extrem schnell ist - vertikal wie horizontal. Er kann sowohl vorwärts verteidigen - gegen den Lauf und natürlich als Pass-Rusher oder Blitzer je nach Position -, als auch in Coverage. Er hat den Speed, um mit den meisten Receivern mitzuhalten und genügend Masse, um Running Backs zu stoppen. Was er noch nicht fehlerlos beherrscht, ist Antizipation in Zone Coverage.

Hier passierte es ihm häufiger, dass er sich von den Augen des Quarterbacks zu falschen Entscheidungen verleiten ließ. Zudem hat er nicht so viel Masse, um tatsächlich auch als Mike-Linebacker in der Mitte zu spielen, da er wohl gegen starke Interior O-Lineman das Nachsehen hätte.

Insofern täte man wohl gerade in seiner Anfangszeit in der NFL gut daran, ihn auch wirklich gemäß seinen Stärken einzusetzen und noch nicht zu viel von ihm zu verlangen. Als Will-Linebacker etwa könnte er direkten Gegnern entgehen und als eine Art Freelancer schlicht den Ball attackieren, was mit seiner Athletik zu großem Ertrag schon früh in der Karriere führen könnte.

Klar sein sollte demjenigen, der ihn letztlich draftet, lediglich, dass Simmons eben tatsächlich keine klare Position besitzt. Zwängt man ihn in eine in einem eher altmodischen System, beraubt man ihn womöglich seiner größten Stärke, der Vielseitigkeit. Ein modern denkender Defensive Coordinator ist also ein Muss, will man Simmons in sein Team holen und auch wirklich das Elite-Potenzial aus ihm rausbringen.

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NFL Draft 2020: Sehr gute Defensiv-Spezialisten

Letzteres könnte auch ein Grund sein, warum womöglich ein Top-5-Pick für Simmons nicht zu realisieren ist. Diese Draftklasse hat zahlreiche herausragende Spezialisten auf der defensiven Seite des Drafts.

In Sachen Edge Rush ist Chase Young von Ohio State die klare Nummer eins, der beste Cornerback ist zweifelsfrei Jeff Okudah, ebenfalls von Ohio State und in Sachen Defensive Tackle finden sich Derrick Brown (Auburn) und eventuell Javon Kinlaw (South Carolina) . Allesamt Spieler auf sogenannten Premium-Positionen. Simmons dagegen wird voraussichtlich als Off-Ball-Linebacker oder Safety von den meisten zuvorderst eingestuft, was keine Premium-Positionen sind.

Ein Team, dass Simmons zieht, sollte idealerweise auf besagten Positionen schon gut besetzt sein, denn im Draft geht es gerade in der Top 10 um Value und die Möglichkeit, eine bestimmte (Premium-)Position auf Jahre hinweg zu stabilisieren. Simmons, so sehr er das Profil eines modernen Verteidigers erfüllt, würde diesen Aspekt wohl nicht in jeder Defense befriedigen; vielmehr gilt dieser Freak als Luxus. Als jemand, der eine gute Defense entscheidend verbessern kann. Solche Units allerdings trifft man bei Teams, die letztlich ganz oben picken, eher selten an.

Allerdings brachte Simmons selbst in dieser Diskussion ein wichtiges Argument selbst an: Seine besonderen Fähigkeiten lassen sich vor allem auf ein zentrales Problem für eine jede Defense der modernen NFL anwenden: er kann Tight Ends verteidigen.

"Das Spiel entwickelt sich. Den Tight End zu stoppen lautet die Devise. Irgendwer muss die Travis Kelces und George Kittles dieser Welt stoppen", sagte Simmons und liegt damit nicht falsch. Solche Spieler sind die Schlüssel zu vielen modernen Offenses. Wer sie aus dem Spiel nehmen oder zumindest deren Kreise eindämmen kann, hat schon viel erreicht. Simmons bringt alle Voraussetzungen mit, eben diese spezielle Aufgabe - neben zahlreichen anderen - zu bewältigen.

Und das könnte dann doch einen sehr hohen Draftpick rechtfertigen.