Oft beginnen die Geschichten von hochgehandelten Draft Prospects damit, wie sie von der High School an die Auserwählten waren. Sie waren gewissermaßen schon Stars im Teenager-Alter und marschierten dann durchs College bis hin zur NFL ohne große Widerstände - jedenfalls außerhalb des Platzes.

Javon Kinlaws Weg zum NFL Draft hingegen verlief gravierend anders.

Kinlaw hatte von Kindesbeinen an mit für viele unvorstellbaren Umständen zu kämpfen. "Ich habe viele Dinge gesehen, die ein Kind nicht sehen sollte und ich habe viele Dinge getan, die ein Kind nicht tun sollte", erinnerte sich Kinlaw auf seiner Pressekonferenz bei der Scouting Combine im Februar in Indianapolis.

Beide Eltern, die sich voneinander trennten, als Javon gerade mal fünf Jahre alt war, hatten es sehr schwer, Jobs zu finden - was das Leben für die Familie massiv erschwerte. Seine Mutter, die in den 90er Jahren aus Trinidad in die USA kam, sprang gewissermaßen von Kurzanstellung zu Kurzanstellung, was zur Folge hatte, dass sie mit ihren Kindern - Kinlaw hat noch zwei Brüder - von Stadt zu Stadt und von Bundesstaat zu Bundesstaat zog.

Sie waren öfter obdachlos und bei Freunden untergebracht, teilweise gar im Keller. So ging es von Washington/DC nach Mississippi und schließlich South Carolina. Für eine Weile lebte Kinlaw ab 2013 zudem bei seinem Vater, der allerdings auch meist nur im Motel oder gar in Bleiben unterkam, die nicht so ganz legal waren. Zur Schule ging Kinlaw immer mal wieder, aber nie so richtig regelmäßig. Seine Ausbildung erschwerte das selbstredend, genau wie seine Chancen, aufs College zu gehen.

Javon Kinlaw mit beeindruckender Physis gesegnet

Allerdings wurde schon früh klar, dass Kinlaw mit einer beeindruckenden Physis gesegnet war. Seine Größe (1,98 m) und seine Masse - teilweise wog er mal fast 160 Kilogramm - machten ihn prädestiniert für Football - und Basketball, das er auf der High School auch zwischenzeitlich spielte.

Mit Football begann er eher spät und so mussten seine Coaches ihm erstmal die Grundlagen beibringen. Er spielte Offensive und Defensive Line, ehe er sich schließlich am College auf Interior D-Line spezialisierte.

Kinlaw beendete seine High-School-Zeit schließlich mit einer Einladung zum prestigeträchtigen U.S. Army All-American Game, an dem die besten High-School-Seniors des Landes alljährlich teilnehmen. Ein spezielles Schaufenster für Colleges, wenn man so will.

Das Interesse der Colleges war entsprechend groß, besonders South Carolina und Head Coach Will Muschamp waren sehr interessant, den Lokalmatadoren ins Team zu holen. Doch seine Noten und generelle Verhaltensdefizite schreckten schließlich mögliche Interessenten ab.

Argumente, die auch sein Befürworter Muschamp nicht guten Gewissens ignorieren konnte. Doch jener schlug Kinlaw dann einen Plan B, einen Umweg, vor: Ein Jahr Junior College im sogenannten GED-Programm des Jones County Junior Colleges in Mississippi.

Und sollte er es dort schaffen, diese Bedenken wegzuwischen und eben diesen Alternativen Schulabschluss zu erlangen, würde anschließend ein Stipendium bei den Gamecocks auf ihn warten.

Javon Kinlaw: Über das Junior College nach South Carolina

Kinlaw nahm diese Chance an. Nicht allerdings nur, um seinen Football-Traum weiter zu träumen; ihm ging es um sehr viel rudimentärere Dinge: "Ich bin nicht wirklich des Footballs wegen aufs Junior College gegangen", sagte Kinlaw in Indy: "Ich bin dahingegangen, weil ich einen Ort zum Schlafen hatte. Ich habe kostenloses Essen bekommen. Darum habe ich das gemacht."

Der Plan ging auf und ein Jahr später hatte er seinen GED-Abschluss, der mit einem High-School-Diplom gleichzusetzen ist. Bevor Kinlaw allerdings seine Zeit in South Carolina begann, nahm er erst noch Einladungen aus Alabama, LSU und sogar USC wahr.

Nicht, um dort dann zuzusagen, sondern vielmehr, um das Land zu sehen, neue Städte zu besuchen. Urlaube und Städtereisen waren in seinem bisherigen Leben schließlich undenkbar. Am Ende aber ging es für ihn dann doch zu den Gamecocks und Muschamp.

Überschaubare Total Stats - mit Erklärung

Schaut man sich Kinlaws gesamte College-Zeit an, fällt auf, dass seine Statistiken gar nicht mal so herausragend waren. Allerdings ist dies hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass er mit seiner Masse ständig von Double-Teams geblockt wurde.

Glaubt man dagegen Pro Football Focus , ragte er dennoch 2018 und 2019 heraus. "Das Furchteinflößende ist, dass der Senior nur an der Oberfläche gekratzt hat. Er hat zwar aktuell nicht viel mehr als einen Push-Pull- und einen Swim-Move in seinem Pass-Rush-Arsenal, doch der Fakt, dass dies zu Pass-Rush Grades von 88,7 und 90,7 in den vergangenen zwei Jahren führte, begeistert uns sehr", hieß es bei PFF .

Kinlaw selbst ist sich durchaus bewusst, dass er gewissermaßen ein Projekt, ein Rohdiamant, ist und gerade im Einsatz seiner Arme noch gehörig Luft nach oben hat. "Ich bin immer noch dabei zu lernen, wie ich diese Hockeyschläger am besten einsetze", sagte er über seine fast 90 Zentimeter langen Arme - Spannweite: knapp 2,13 m. Generell wird seine Technik noch als Defizit angesehen, zudem ist er eher ein Typ Spieler, der den Ball attackiert, wenn er ihn sieht und nicht unbedingt strategisch auf hohem Niveau agiert.

Kinlaws Ziel: Ein besseres Leben für die Tochter

Sein größtes Plus - neben der Statur - ist jedoch seine Einstellung, die sich in den vergangenen paar Jahren massiv gewandelt hat.

Hauptgrund dafür? Seine kleine Tochter, Eden Amara, die mit ihrer Mutter in Wisconsin lebt, aber öfter bei den Heimspielen in Columbia dabei war. "Ich habe eine kleine Tochter, für die ich sorgen muss", und: "Ich will einfach, dass sie nie so aufwachsen muss wie ich aufgewachsen bin", sagte Kinlaw zu seiner neu gefundenen Motivation.

Er gibt kein Play auf und ist sehr engagiert, wenn es darum geht, an sich zu arbeiten. Das gilt sowohl für die Technik, die sicherlich in seiner NFL-Anfangszeit im Fokus stehen wird, als auch für die generelle Fitness. In South Carolina brachte er sein Körpergewicht von fast 160 Kilogramm zeitweilig bis auf 140 kg runter. Mittlerweile liegt er bei knapp 147 kg. Sein Gewicht liegt aber vor allem in seinen Beinen, während der Oberkörper durchaus noch stabiler werden könnte.

Er spielte auf dem College meist 3-Technique, attackierte hauptsächlich die B-Gap - die Lücke zwischen Guard und Tackle in der Offensive Line - und hat die nötige Schnelligkeit und Explosivität, um hier durchzubrechen und entweder den Quarterback oder Running Back zu attackieren.

Darüber hinaus bringt Kinlaw die nötige Härte mit. 2018 spielte er lange mit einem Riss an der Gelenkslippe in der Hüfte, die nach Saisonende operiert werden musste. Die Übungen bei der Combine verpasste er indes, da er unter Kniebeschwerden litt, die aber mittlerweile ausgeheilt sein sollen.

© imago images

Kinlaw will der beste Defensive Tackle überhaupt werden

Unterm Strich gilt Kinlaw als sicherer Erstrundenpick und neben Derrick Brown (Auburn) bester Defensive Tackle seiner Klasse. Und er kommt mit großem Selbstvertrauen in die Liga.

Was ihm am Spiel besonders gefalle, wurde er gefragt: "Ich liebe es einem Mann in die Augen zu schauen und er genau weiß, dass er mich nicht stoppen kann, egal, was er tut." Entsprechend fällt Kinlaws Zielsetzung für die NFL-Karriere aus: "Ich würde gern der beste Defensive Tackle werden, den es je gab."

Das allerdings darf nicht als Zeichen von Arroganz gewertet werden, denn in derselben Combine-PK gab er sich auch äußerst bescheiden und gab zu, dass er "manchmal" das Gefühl habe, "dass ich es nicht verdiene, hier zu sein".

Am Ende gehe es ihm vor allem darum, seiner Mutter und seiner knapp ein Jahr alten Tochter, Eden Amara, ein besseres Leben zu ermöglichen. Football, so Kinlaw, sehe er dafür als besten Weg an.

Javon Kinlaw: College-Stats für South Carolina

Jahr Spiele Tackles Tackles for Loss Sacks Passes Defensed 2017 7 17 0 0 1 2018 10 30 9 4 2 2019 12 35 6 6 0