Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Tel Aviv zu einem Verkehrsunfall kommt, war in den letzten 24 Stunden so gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass am Wörthersee eine Segelyacht von einem Space Shuttle gerammt wird. Eine kühne Behauptung? Keineswegs. Israel feierte nämlich den Yom Kippur, den höchsten Feiertag im Judentum - und an diesem Tag steht das ganze Land still.

Und Stillstand bedeutet in diesem Fall tatsächlich Stillstand. Denn an Yom Kippur darf kein Auto fahren, auch kein Bus, kein Taxi und kein Zug - also rein gar nichts. Ja, sogar die Flughäfen werden am "Tag der Versöhnung" gesperrt. Dementsprechend bedrückend entwickelte sich auch der frühmorgendliche Spaziergang. Jene vierspurigen Straßen, auf denen sich noch vor wenigen Stunden der Verkehr gewälzt hatte, vermittelten mit ihrer gespenstischen Verlassenheit plötzlich jene Endzeitstimmung, wie man sie sonst nur aus mittelmäßigen Hollywoodfilmen kennt, die den Weltuntergang heraufbeschwören.

Aber, wer an einem Feiertag zu früh aufsteht, ist offensichtlich selber schuld. Denn mit voranschreitender Stunde kam dann doch Leben auf. Ein Radfahrer hatte mit seinem Riesentorlauf-ähnlichem Fahrstil offensichtlich Spaß daran, die breite Straße gefahrenlos für sein Vehikel alleine nützen zu können. Ob er zu diesem etwas ungewöhnlichen Zeitpunkt noch dem Einfluss nächtlich konsumierter Alkoholika unterlag, ließ sich nicht feststellen.

Es geht darum, in sich zu kehren

Auf alle Fälle warf sein Verhalten jene Frage auf, wie ernst es der tollkühne Fahrrad-Artist mit der Religion nimmt. Denn neben dem Verzicht auf Annehmlichkeiten wie Fernsehen, Radio, Telefon oder Internet (und in manchen Fällen sogar Strom) sind am Yom Kippur auch Essen und der Konsum alkoholischer Getränke tabu. "Es kommt natürlich darauf an, wie religiös man ist. Nicht jeder lebt das gleich aus", erzählt Rani, der auf einer Mauer sitzt, und dem mittlerweile bunten Treiben am Strand mit einem Lächeln zusieht.

Vorrangig gehe es an diesem Tag darum, dass man sich bei Gott und seinen Mitmenschen für all die Fehler des vergangenen Jahres entschuldigt. Und darum, in sich zu kehren und mit sich ins Reine zu kommen. Dass dieser Tag des absoluten Stillstandes (es bleiben auch alle Geschäfte, Lokale und Supermärkte geschlossen) der Wirtschaft des Landes Schaden zufügt, ist Rani, seines Zeichens ein ins Alter gekommene Barkeeper und überzeugter Jude, bewusst. Aber welche wirklichen Gefahren der Yom Kippur mit sich bringen kann, hätte das Jahr 1973 gezeigt.

"Denn da haben Ägypter und Syrer diesen Tag dazu genützt, um unser ruhendes Land anzugreifen." Er selbst sei damals zum Krieg eingezogen worden. Neun Monate lang - "und ich habe damals sehr viele Freunde verloren. Und bei jedem Yom Kippur liege ich in der Nacht im Bett und kann nicht schlafen. So war es auch diesmal wieder. Weil stets diese schrecklichen Bilder an meinen Augen vorbeiziehen."

Am Sonntag will Rani vor allem die Ruhe genießen, wie die meisten anderen Menschen die Synagoge besuchen und durch die Straßen spazieren. "Für euch Christen muss das alles wie eine Art Hardcore-Religion klingen, oder?", fragt Rani plötzlich. Eine Aussage, der man nur schwer widersprechen kann. Dann steht er auf, zwinkert schmunzelnd und sagt: "Am Ende unseres Lebens werden wir sehen, wer mit seinem Glauben richtig gelegen ist."

Nur wenige Minuten nach diesem Gespräch stand auf alle Fälle bereits fest, dass es ein großer Fehler war, sich am Vortag nicht mit genügend Getränken einzudecken. Denn Tel Aviv verwöhnte die Menschen an diesem feierlichen Tag mit brütenden 33 Grad und sorgte dafür, dass die Zunge alsbald am Gaumen klebte. Doch am späten Nachmittag neigte sich der Yom Kippur seinem Ende, die Rollläden gingen hinauf, die Autos verstopften wieder die Straßen, das Leben nahm seinen gewohnten Verlauf.