"Es gibt riesige Erwartungen an uns", sagte Jamie Joseph Ende August vor der versammelten Presse des Landes. Gerade hatte seine Truppe den mäßig wichtigen Pacific Nations Cup gewonnen. Dem gebürtigen Neuseeländer Joseph aber, der seit drei Jahren Japans Nationalteam betreut, machte das Resultat Mut: "Bei der WM wollen wir das Viertelfinale erreichen." Der erste Schritt dafür ist bereits getan, Japan gewann das Auftaktspiel gegen Russland mit 30:10. Was für die vergleichsweise junge Rugbynation ein historischer Erfolg wäre, schätzt der Trainer, wird vom heimischen Publikum jetzt zwingend erwartet: "Wir verstehen, welche Verantwortung wir als Gastgeber tragen."

Dabei ist es eine Verantwortung auf mehreren Ebenen. Mit der WM im Rugby findet aktuell bis 2. November eine der beliebtesten Sportveranstaltungen der Welt statt. Der Dachverband World Rugby versucht das Turnier als global drittgrößte Sportveranstaltung hinter Olympischen Spielen und der Fußball-WM zu vermarkten. Und da dies höchstens durch eine kreative Zählkombination aus teilnehmen Ländern, verkauften Tickets und TV-Zuschauern zutrifft, stehen die Veranstalter gegenüber ihren Sponsoren unter Druck. Die Rugby-WM, die Werbung für ihren Sport machen soll, muss beeindruckende Momente liefern, emotionale Geschichten und packenden Wettkampf.

Rugby-Boom in Japan

Dem Gastgeber kommt dabei eine besondere Rolle zu. Einerseits wird von Japan ein reibungsloser Ablauf in neuen Stadien erwartet, der Fans in den Stadien und am Bildschirm für den Sport begeistert. Für die Organisatoren ist die WM auch ein Soundcheck für Olympia 2020, das ein knappes Dreivierteljahr später in Tokio beginnt. Alles deutet auf ein Spektakel hin: Fast alle der 1,8 Millionen Stadiontickets für 48 Spiele sind verkauft, in den 16 über das Land verteilten Public-Viewing-Zonen wird eine weitere Million Zuschauer erwartet.

Rugby boomt in Japan. Zwar wurde das rustikale Spiel des gehobenen Milieus schon um die Wende zum 20. Jahrhundert an Universitäten betrieben, als sich Japan nach einer 250 Jahre langen Isolationsperiode gerade der Welt geöffnet hatte. Aber große mediale Aufmerksamkeit kam erst bei der WM 2015 in England auf, als der Underdog Japan den Turniermitfavoriten Südafrika 34:32 besiegte. Die Tageszeitung "Nikkei" jubelte das Ergebnis zu "einer der größten Überraschungen der Geschichte" hoch. Obwohl Japan einige Tage später ausschied, überschlugen sich Erfolgsmeldungen. Mittlerweile berichten Tageszeitungen täglich über Rugby.

Japans Team als Vorreiter

Zumal die "Brave Blossoms", wie sich das Nationalteam nach den zarten Kirschblüten nennt, sogar als Symbol für ein modernes, weltoffenes Japan herhalten können. Das Land hat sich bisher als vor allem homogene Gesellschaft begriffen, in der alle gleich seien. Angesichts eines Ausländeranteils von kaum zwei Prozent und strenger Immigrationspolitik hat dies auch rassistische Vorurteile manifestiert. Fremd aussehenden Personen, die keine Touristen sind, begegnet man häufig mit Interesse, aber auch Skepsis.

Japans WM-Kader im Rugby wird nicht nur von einem gebürtigen Neuseeländer beaufsichtigt. Er zählt unter den 31 Spielern auch 15, die ausländische Elternteile haben oder selbst im Ausland geboren wurden. Führungsspieler Ayumu Goromaru twitterte deshalb schon nach dem Überraschungssieg über Südafrika: "Diese Spieler haben sich dafür entschieden, für Japan zu spielen und nicht für ein anderes Land. Sie sind die besten Freunde, die wir haben." Mit einiger Erwartung werden diese Spieler, die Ursprünge in Tonga, Neuseeland, Südafrika, Korea oder Australien haben, nun tatsächlich weitgehend als Freunde Japans gehandelt.

Tattoo-Tabu

Rugby trägt zur kulturellen Öffnung eines Landes bei: Es sind solche Geschichten, die der Weltverband sucht, um im globalen Wettrennen mit Fußball, Tennis oder Cricket um Beliebtheit und Sponsorengelder mitzuhalten. Das macht Japan zu einem Schlüsselland im Sport. Wirklich beliebt ist Rugby nämlich bisher, neben einigen Ausnahmen, nur in den britisch geprägten Ländern des Commonwealth. Mit positiven Bildern aus Ostasien soll nun ein ganzer Kontinent erschlossen werden. In Japans Bevölkerung etwa wüssten laut Umfragen schon drei Viertel der Bevölkerung, also fast 100 Millionen Menschen, über die WM Bescheid.

Es ist diese enorme Aufmerksamkeit im Land, die dem Gastgeber auch Einfluss über die Kultur des Spiels an sich gibt und damit einer allzu weiten Öffnung Japans etwas entgegenwirkt. Auf eine Weise fremdelt die japanische Gesellschaft mit diesem vermeintlich derben Sport nämlich doch. Während Tätowierungen weltweit unter Spielern und Fans im Rugby fast schon Norm sind, gelten sie in Japan traditionell als Kennzeichen der Yakuza, der japanischen Mafia. Weil so ein Anblick japanische Zuschauer in Unruhe versetzen könnte, hat der Weltverband eingewilligt, sowohl Athleten als auch das Publikum dringend darum zu bitten, sich ihre Tattoos abzukleben. Bei den rund 400.000 aus dem Ausland anreisenden Zuschauern dürfte das für Irritationen sorgen. Die Mannschaft des Inselstaats Samoa wird beispielsweise eine hautfarbene Schicht tragen. Dass sich jedoch nicht alle Teams daran richten werden, wurde bereits früh im Turnier klar.

Rugby das neue Sumo?

Dem weiteren Wachstum des Sports in Japan, dem Rugby-Leuchtturm in Asien, aber wird sie wohl behilflich sein. Das wiederum könnte anderen Disziplinen im Land zu schaffen machen, so etwa der Traditionssportart Sumo. Seit Jahren klagen die Sumoställe, in denen Athleten unter strenger Leitung wohnen und trainieren, über Nachwuchsmangel. Die Kinder von heute, so bedauert man in der Szene, finden Sumo eher altmodisch als cool. Immer seltener wollen sie so aussehen wie die wuchtigen, halb nackten Ringer. An den Wänden der Kinderzimmer hängen immer häufiger Poster von Fußballern und Baseballspielern.

Um sich in diesen zwei beliebtesten Sportarten des Landes durchzusetzen, fehlen kräftig gebauten Kindern häufig die körperlichen Eigenschaften. Rugby aber, in dem vor allem schwer bepackte Athleten Erfolg haben, wäre bei entsprechendem Training eine neumodische Alternative. Womöglich auch mit diesem Gedanken verglich die Tageszeitung "Japan Times" vor Kurzem die Voraussetzungen und Ähnlichkeiten zwischen Sumo und Rugby.

Damit sich viele Kinder vom Sport angesprochen fühlen, schätzt auch Teamchef Jamie Joseph, wäre eine Wiederholung des japanischen Überraschungserfolgs von 2015 hilfreich. Nun ging die Generalprobe ordentlich schief. Im letzten Testspiel trat Japan, wohl mit der Sensation der letzten WM im Hinterkopf, gegen Südafrika an. Und verlor mit 7:41.