Wenn man mit Pokerspielern spricht und ihr Spiel als Glücksspiel bezeichnet, erntet man von Empörung bis zu mitleidigem Lächeln viel, aber kaum Einverständnis. Pokern, das hat mit Wahrscheinlichkeit zu tun, mit Taktik, mit Täuschen – und ja, ein wenig auch mit Glück. Insofern mag es am Sonntag ab 4 Uhr früh MEZ durchaus einem Pokerspiel ähneln, wenn die Jagd nach Gold in der Olympia-Abfahrt beginnt. Auf einer Strecke, die fordernd ist und von allen Herren höchste Konzentration fordert.

Glück: Es ist der Wind, der den Faktor Glück ins Spiel bringt. „A Fett’n wird man brauchen“, seufzte Vincent Kriechmayr nach dem zweiten Training. Das Wetter ist bei Abfahrten zwar immer ein Faktor, in Yanqing aber in weit größerem Ausmaß. „Aber das mit dem Wind haben wir schon vor der Ankunft gehört. Allerdings auch, dass es hier niemals Niederschlag gibt – und am zweiten Tag hat es geschneit“, sagt Matthias Mayer dazu.

Linien-Poker: Eine neue Strecke muss man sich erarbeiten. Und nach den Trainings sitzen alle vor den Laptops, um auf die Suche nach der besten Linie zu gehen. „Ich mache das sehr gerne vor dem Einschlafen“, erzählt Olympia-Debütant Daniel Hemetsberger. Die Routiniers aber zieren sich daher oft, in den Trainings die Karten ganz aufzudecken – im Bewusstsein, es doch wagen zu müssen. Die Gefahr ist groß, sich sonst am Renntag zu verpokern. Kein Wunder, dass im zweiten Training die „großen Namen“ schon weiter vorne, zumindest in Teilzeiten auch ganz vorne zu finden waren. „Aber“, gestand Mayer ein, „es ist wirklich so, dass man manche Kurven probiert, um danach sofort wieder Tempo rauszunehmen. Es ist eine Gratwanderung, wirklich ein wenig wie Poker.“

Favoritenkreis: „Es gibt einige mehr als üblich – aber am Ende wird einer der üblichen Verdächtigen zuschlagen“, sagte Vincent Kriechmayr. Dem mag man zustimmen, wäre da nicht der Wind und die Kälte, die alle fordern. Matthias Mayer etwa spürte nach dem Einfahren am Samstag schon Erfrierungen an der Nase – im Training fuhren alle schon mit abgeklebten Gesichtern; ganz ohne das zum Teil eines Pokerface zu machen. Klar ist: International werden vor allem Aleksander Aamodt Kilde (der im zweiten Training auch Bestzeit fuhr), Beat Feuz, Dominik Paris oder Marco Odermatt als Favoriten geführt, die Österreicher sind allesamt in der Lage, zumindest um Medaillen zu fahren – egal ob Mayer, Kriechmayr, Hemetsberger oder einer der beiden Qualifikanten Max Franz oder Otmar Striedinger; heute nach dem letzten Training wird entschieden, wer den vierten Startplatz bekommt.

Druck: Klar ist nur: Wer Gold gewinnen will, muss „All In“ gehen. Mayer kann das nach zwei Goldenen vielleicht mit weniger Druck tun: „Ob das stimmt, weiß ich nicht. Die Erwartungshaltung ist ja groß – und andere haben ja auch schon Medaillen.“ Er selbst bringt sich mit dem scheinbar phlegmatischen Hin- und Herrutschen vor dem Start in Stimmung: „Ich brauche das, um den Skischuh zu spüren, einen Druck aufs Schienbein zu bekommen – um ab dem ersten Tor bereit zu sein.“ Debütant Hemetsberger ist zwar vom Olympia-Fieber gepackt, verspricht aber: „Am Renntag gibt es nur den Fokus auf meine Routine.“ Weltmeister Kriechmayr lächelt, wenn man ihn darauf anspricht, dass auch die WM-Abfahrt 2021 keiner kannte – und er siegte: „Das stimmt schon. Aber das hier ist leider eine ganz andere Abfahrt.“