Die Europameisterschaft ist geschlagen, die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris, die Spiele der XXXIII. Olympiade stehen vor der Tür. Ein Sommer voller Leistungssport, voller Kämpfe, Vergleiche, Sieger und Besiegten. Mitunter stellt sich die Frage? Wozu brauchen wir das eigentlich? Was für ein Sinn steckt im Sport, ist der Leistungssport Sinnstiftend? Die Philosophen David Manolo Sailer und Jan Kerkmann gingen dieser Frage auf den Grund. Der Wiener Sailer war selbst Leistungsschwimmer. Sein deutscher Kollege Jan Kerkmann ist passionierter Langstreckenläufer, zählt zur deutschen Ultralauf-Elite. Die Frage: Wie wird das Individuum im beziehungsweise durch den Sport, was es ist? Sie forschten und sammelten Texte verschiedenster Fachrichtungen, bevorzugt aber von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die selbst im (Spitzen-)Sport tätig waren. Das Ergebnis: „Schonungslos“.

Warum braucht der Sport denn überhaupt eine Philosophie? „Sport ist in der Natur des Menschen, in der Anthropologie verankert. Er vereint gesellschaftliche Strukturkomponenten, ist Abbild des agonalen Strebens, des Ehrgeizes und des Umgangs mit Widerständen und Schwierigkeiten“, erläutert Sailer. „Sport bietet alle Strukturkomponenten der Existenz, hat eine Brennglaslogik, eine Verdichtungssphäre. Er bietet die Chance, einen Blick auf kompetitive Situationen zu werfen, auf eine Art des Selbstumgangs.  Von dieser Verdichtung ausgehend, den Zeitpunkt und die mentalen Aspekte betrachtend: Was sind die ‚lessons learned‘?“, sagt er. Es geht letztlich darum, den Nutzen für das Leben in der heutigen Zeit zu betrachten.

Dem Flow-Zustand auf der Spur

Die Besonderheit an ihrer Herangehensweise: Mit Hauptaugenmerk auf den Einzelsport ist „Schonungslos“ eine interdisziplinäre Untersuchung. „Sport“ – übrigens keine Erscheinung bzw. Erfindung der modernen kapitalistischen Gesellschaft – wird kulturhistorisch und phänomenologisch aufgearbeitet. Auch ein Kapitel aus der Neurowissenschaft und ein Beitrag eines Neurophilosophen finden sich, um auch den inneren Abläufen von Sportlerinnen, der Erlangung des „Flow-Zustands“ auf die Spur zu kommen.

Der Titel des Buches – „Schonungslos“ – sei auch Ausdruck einer Wesensart des Sports. Es gehe für Athletinnen und Athleten „um die Entscheidung, in kontinuierlicher Selbstqual kurzfristig ein wettkampfartiges Lebensziel zu erreichen oder langfristig einen Lebenslauf zu wählen, die eigene Existenz aufzubauen“, sagt Sailer. Als (Leistungs-)Sportler dürfe man nie eine hohle, sterile Ausrichtung haben, sondern müsse immer mit einem „Warum“ durchflutet sein. Man gewinne Resilienz, eine Lebensbewältigungsstrategie sowie Leidensfähigkeit, indem man sich selbst gegenüber schonungslos sei. Ohne Ziele würden selbst Trainings „schonungslose Komponenten“.

Philosophie der Niederlage

„Schonungslos“ widmet sich zudem dem Versuch, die Philosophie der Niederlage zu ergründen, mit der man sich sonst nicht so gerne auseinandersetze, sagt der Philosoph. Obwohl die Frage der Niederlage sei auch für das Leben eine zentrale sei. Für den Sport aber gilt meist die Suche nach dem „Heldenepos“. Sportler waren schon in der Antike Vorbilder, Halbgötter bestachen durch hohes körperliches Leistungsvolumen. Durch die Kommerzialisierung und Medialisierung steigt der Event- und Showcharakter. Auch bei Pierre de Coubertin, dem Gründer der Spiele der Neuzeit, spiele das Narrativ der Heldensuche eine zentrale Rolle. Sailer: „Heldenerzählungen haben immer eine quantitative Messbarkeit von Leistungen. Helden überschreiten Grenzen  - und daher werden Ausnahmesportler bewundert.“

Positiv wie negative könne die agonale Komponente des Sports gesehen werden. Sport sei Ausdruck der „kämpferischen Grundnatur des Menschen“, eine Art Gladiatorenkampf. Und doch werde die kriegerische Komponente im Sport pazifiziert, auch dank der Regulierung. Die Befriedungstendenz durch und mit dem Sport sei zum Kulturgut geworden. Und nach wie vor seien die Olympischen Spiele ein Hebel, der just bei der gegenwärtigen Tendenz zur Instabilität, in der alles aufbricht, ein gemeinsames Dach gebe, ein gemeinsames Streben nach einer positiven Leitlinie mit Helden. Und selbst der olympische Friede sei da nicht nur ein Schlagwort.

Was muss sie denn nun wirklich sein, die Philosophie des Sports? Sailer bemüht sich, eine Zusammenfassung zu liefern: „Die Philosophie des Sports muss eine Art geronnener Existenzepos sein, eine Lebensbewältigungsstrategie, die aus der Binnenperspektive anhebt und sich aufs Leben auswirkt. Es geht um erlernte Lektionen, die auf das Leben umzusetzen sind.“